Torsten Becker, Markus Eichberger, Holger Heinze, Ulrike Kirchner, Gisela Stete, Peter Sturm, LG Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland
Das Quartier hat als täglicher Aktionsraum und als soziales Bezugssystem eine herausgehobene Bedeutung für das Leben in der Stadt. Räumliche Strukturen, nachbarschaftlicher Zusammenhalt sowie wirtschaftliche und kulturelle Qualitäten werden hier konkret und direkt erlebbar. Erfolge bei der umweltgerechten und klimaneutralen Stadtentwicklung hängen somit von der Umsetzung auf der Maßstabsebene des Quartiers ab. Hierbei spielen die Förderung einer bewegungs- und gesundheitsfördernden Mobilität, die gerechte Verteilung von Verkehrsflächen sowie die attraktive Gestaltung der Straßenräume und Plätze eine wichtige Rolle. Daher stellen wir als Landesgruppe Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland die Wechselwirkungen von Mobilität und öffentlichem Raum in den Mittelpunkt unserer Betrachtungen. Wir gehen unter anderem den Fragen nach, wie das Mobilitätsangebot organisiert werden sollte, um die Nutzung umweltverträglicher Verkehrsmittel zu unterstützen, wie die Infrastrukturen und Anlagen auch von Radfahrer:innen und Fußgänger:innen sicher genutzt werden können und wie die Belebung öffentlicher Räume durch attraktive Gestaltung und vielfältige Handlungsoptionen gelingt.
Folgende Grundsätze sind im Hinblick auf die erforderliche Mobilitätswende aus unserer Sicht zu beachten.
- Der geforderte Paradigmenwechsel hin zu einer umweltverträglicheren Mobilität im Stadtquartier ist bislang noch nicht „Standard“.
- Mobilität ist als integrierter Bestandteil der Quartiersentwicklung zu behandeln und die Verkehrsabwicklung daran orientieren.
- Städtebauliche Aufwertung und Nutzungsmischung sind nicht zu unterschätzende Beiträge zur „Stärkung der Nähe“.
- Quartiere bestimmen mit ihrer städtebaulichen Dichte, der funktionalen Nutzungsmischung sowie der Gestaltung öffentlicher Straßen und Plätze maßgeblich die Bedingungen für Nahmobilität.
- Quartiere haben darüber hinaus eine hohe Relevanz für die gesamtstädtische Mobilität und die nachhaltigen Stadtentwicklung sowie für Geschlechtergerechtigkeit.
Um Fortschritte bei einer nachhaltigen Quartiersentwicklung und insbesondere beim Klimaschutz und bei der Mobilitätswende zu erzielen, braucht es aus unserer Sicht ein „Mehr“ an Weitsicht, Ausgewogenheit, Kreativität, Mut und Reflexion. Hierzu haben wir für den Workshop im Rahmen der Jahrestagung handlungsleitende Thesen formuliert, die keineswegs neu, aber nach wie vor gültig und angesichts der Herausforderungen aktueller denn je sind. Sie werden in vier Fallbeispielen aufgegriffen und konkretisiert, wobei in jedem Fallbeispiel hierzu eigene Akzente gesetzt werden.
Bei der Auswahl der Fallbeispiele haben wir uns nicht ausschließlich auf Bestandsquartiere beschränkt. Mit der Lincoln-Siedlung in Darmstadt stellen wir auch ein Neubauquartier vor, das – quasi als Reallabor – auch für gewachsene Quartiere wichtige Erfahrungen und Erkenntnisse liefern kann.
Fallbeispiele:
Die Friedrich-Ebert-Straße in Kassel wurde im Rahmen des Förderprogramms „Aktive Kernbereiche“ über 10 Jahre hinweg umgebaut und modernisiert. Sie ist ein überregional anerkanntes Beispiel dafür, wie autogerechte Hauptstraßen städtebaulich so aufgewertet werden können, dass sie allen Verkehrsteilnehmenden dienen und gleichzeitig mehr Aufenthaltsqualität geschaffen wird. Die Umgestaltung der Verkehrsachse zum Boulevard wurde 2016 mit dem Deutschen Verkehrsplanungspreis ausgezeichnet.
Zahlreiche Nutzungsansprüche kennzeichnen den Marktplatz im Zentrum von Offenbach am Main. Geprägt von innerstädtischem Einzelhandel liegt er wie ein Scharnier zwischen Fußgängerzone und dem attraktiven Wilhelmsplatz. Zugleich ist er Mobilitätsknoten mit dem zentralen Umstieg zwischen S-Bahn und mehreren Buslinien. Über Jahre hinweg wurde mit Planungen zur Verkehrsführung, experimentellen Konzepten und Wettbewerben daran gearbeitet, die Aufenthaltsqualität nachhaltig zu steigern und den Marktplatz als Bindeglied zwischen den verschiedenen Innenstadtbereichen aufzuwerten. Im Jahr 2023 wurde der Marktplatz nach erfolgtem Umbau wiedereröffnet.
Der Oeder Weg ist eine etwa 1,4 km lange Quartiersstraße mit Versorgungsfunktion im westlichen Nordend, einem Gründerzeitquartier nördlich der Innenstadt von Frankfurt am Main. Obwohl historisch gesehen keine „klassische Ausfallstraße“, war er durch seine zentrumsnahe Lage lange Zeit stark durch motorisierten Durchgangsverkehr belastet. Der Oeder Weg ist die erste Straße, die im Rahmen des »Bürgerbegehrens Radentscheid Frankfurt am Main« seit 2021 sukzessive zur fahrradfreundlichen Nebenstraße umgestaltet wurde. Den positiven Wirkungen einer deutlichen Erhöhung der Aufenthaltsqualität infolge der Reduzierung des MIV steht eine teils deutliche Kritik insbesondere seitens der Händlerschaft gegenüber. Nachdem ein Forscherteam der Frankfurt University of Applied Sciences (ReLUT – Research Lab for Urban Transport) zur Schlussfolgerung gelangte, »dass die Umgestaltung des Oeder Wegs unter Berücksichtigung aller untersuchten Kriterien insgesamt erfolgreich war und positiv zu bewerten ist« empfahl der Ortsbeirat unlängst, den Magistrat zu bitten, die provisorisch angelegte Umgestaltung des Oeder Wegs zu verstetigen.
Die Lincoln-Siedlung in Darmstadt ist ein Neubauquartier auf einer Konversionsfläche in Stadtrandlage für bis zu 5.000 Bewohnerinnen und Bewohner. Das Entwicklungskonzept erfolgte in einem integrierten Ansatz (Städtebau, Freiraum, Mobilität), bei dem zahlreiche Akteure von Beginn der Planungen an beteiligt wurden. Das Vorhaben, zeichnet sich durch ein sehr weitgehendes, innovatives Mobilitätsmanagement aus, wo unter anderem die Aufenthaltsfunktion und die Verkehrsfunktion des öffentlichen Raumes gleichermaßen adressiert waren. Die Quartiersentwicklung wurde im Rahmen einer Begleitforschung evaluiert und mehrfach mit Fachpreisen prämiert.