Flemming Marten, Studierender an der Hochschule Bremen
Beitrag aus dem Seminar „Quartiersforschung“, Lehrgebiet „Theorie der Stadt“ an der School of Architecture Bremen, WiSe 2023/2024.
In jeder Metropolregion gibt es sozial benachteiligte Bereiche, welche sich aus diversen Gründen ergeben können. Zur Untersuchung dieser Sozialräume in Bezug auf soziale Integration und möglichen Maßnahmen zur Stärkung dieser werde ich mich auf den städtebaulichen Maßstab des Quartiers beziehen. Als Beispielort habe ich das Quartier Kattenturm im Südosten Bremens ausgewählt.
In der einschlägigen Literatur wird der Begriff des Quartiers sehr unterschiedlich benutzt, ausdifferenziert und beschrieben. Dabei bleiben die Größe und die zusammenhängende Baustruktur eher undefiniert. Nach Studium unterschiedlicher Quartiersansätze bin ich zu folgender Definition gekommen:
Grundsätzlich können Quartiere sowohl physisch als auch sozial definiert werden. Physisch betrachtet bezieht sich das Quartier auf eine bestimmbare geografische Region. Diese Bestimmung kann durch natürliche oder menschengemachte Grenzen erfolgen. Sozial betrachtet bezieht sich ein Quartier auf die Gemeinschaft von Menschen, die in diesem begrenzten Gebiet leben, arbeiten und auf verschiedene Weise interagieren.
Ein Quartier wird als sozial benachteiligt deklariert, wenn ein erhöhter Anteil der darin lebenden Personen sich als sozial benachteiligt bezeichnen lässt. Dabei werden Indikatoren, wie Bildung und Einkommen herangezogen, um den Grad der sozialen Benachteiligung festzustellen. Gebiete werden dann als sozial benachteiligt bezeichnet, wenn in ihnen eine signifikant höhere Arbeitslosenquote, Quote an Personen ohne Bildungsabschluss oder Quote an Personen mit Einkommensarmut vorkommen [vgl. 1].
Integration und Aufwärtsmobilität
In der Städteforschung wird davon ausgegangen, dass in diesen Quartieren die bonding ties überwiegen (vgl. 2. S.4-5; s. Abb. 1). Bonding ties beschreiben soziale Bindungen innerhalb der gleichen sozialen Gruppe, welche getting by-Ressourcen zur Verfügung stellen. Damit werden Ressourcen beschrieben, welche den Alltag erleichtern, aber den Beteiligten keine soziale Aufwärtsmobilität ermöglichen. Ein gutes Beispiel für getting by-Ressourcen ist das Ausleihen von Arbeitsgerät oder Hilfe durch das Aufpassen auf Kinder.
Im Gegensatz dazu stehen bridging ties, welche soziale Aufwärtsmobilität ermöglichen, indem sie getting ahead-Ressourcen zur Verfügung stellen. Getting ahead-Ressourcen bezeichnen Ressourcen, welche langfristige Verbesserungen der Lebensqualität und damit einen „Vorsprung“ vor der sozialen Umgebung ermöglichen. Das prominenteste Beispiel für diese Art der Ressourcen wäre die Möglichkeit auf ein Bewerbungsgespräch. Diese Art des Ressourcentransfers findet aber nach Untersuchungen in sozial benachteiligten Quartieren deutlich weniger statt, da die Bewohner stärker auf lokal verankerte Unterstützungsleistungen angewiesen sind (ebd.).
Durch diesen Effekt gestaltet sich für Menschen in benachteiligten Sozialräumen die Aufwärtsmobilität schwieriger als für Personen in anderen Gebieten. Gleichzeitig legen Untersuchungen nahe, dass in einkommensarmen Bevölkerungsschichten aufgrund begrenzter Ressourcen und Schwierigkeiten in der Anbindung eher eine lokal geprägte Lebensweise Einzug erhält. Dabei erhält das direkte und enge soziale Netzwerk bestehend aus Verwandten, Nachbarn und Freunden eine besondere Relevanz auch in Bezug auf Alltagsunterstützung. Es zeigt sich, dass je niedriger der Bildungshintergrund und je höher die Armutsquote sind, desto größer ist der Anteil der rein lokalen Kontakte.
Trotzdem steht außer Frage, dass soziale Integration und soziale Kontakte für das erfüllende Leben innerhalb eines Quartiers essenziell sind. Quartiere sind dabei Orte mit einer besonderen Balance zwischen Öffentlichkeit und Privatheit in dem sehr viel Engagement und Begegnung möglich sind. Aus qualitativen Umfragen in den zwei sozial Benachteiligten Quartieren „Hafenviertel“ und „Scharnhorst-Ost“ in Dortmund wird deutlich, dass ein Großteil der Bewohnenden dieser sozial benachteiligten Quartiere auf ein umfassendes Unterstützungsnetzwerk innerhalb der Quartiere zurückgreifen können. Diese Unterstützungsleistungen reichen von Hilfe beim Einkauf, über Reparaturarbeiten bis hin zu Fahrdiensten und Jobvermittlung. Wie bereits vorher erwähnt, handelt es sich aber größtenteils um getting by-Ressourcen (vgl. 2. S. 26-30).
Alle diese Kontakte lassen sich nicht erzwingen, sondern sind Ergebnis eines Zusammenspiels kontrollierbarer und unkontrollierbarer Faktoren. Dabei ist es möglich, durch die kontrollierbaren Faktoren Möglichkeiten der Begegnung und es Austausches zu schaffen, um die soziale Integration zu begünstigen. Besonders Gelegenheitsstrukturen, sogenannte „Foci“, wie z.B. eine Bank an einem Hauseingang, Sitzgelegenheiten in einer Häuserschlucht oder eine mit einem Spielplatz ausgestattete Grünfläche, sorgen für einen sozialen Austausch, da sie Raum für zufällige Begegnungen schaffen (vgl. 2).
Des Weiteren üben Veranstaltungsorte einen großen Einfluss auf das Bilden von sozialen Kontakten aus. Dabei können an diesen Orten voneinander völlig unterschiedliche Veranstaltungen stattfinden und trotzdem würde der Ort als Begegnungsstätte funktionieren. Besonders zuträglich ist es, wenn diese Orte eine Art „offene Agora“ oder Begegnungsraum vor dem Raum mit der eigentlichen Nutzung haben. Umfragen zu diesem Thema haben ergeben, dass diese Veranstaltungen in erster Linie unverbindlicher Natur sein sollten, um angenommen zu werden (vgl. 2. S.47-48).
Beobachtungen in Kattenturm
Nach ausgiebiger Besichtigung Kattenturms konnte ich feststellen, dass in Kattenturm hauptsächlich Spielplätze als Foci funktionieren, es aber kaum Sitzgelegenheiten und andere Gelegenheitsstrukturen ohne direkten Aktivitätsbezug gibt. Zudem gibt es einen Funpark mit Skatepark, einen Kleingartenverein und ein Jugendzentrum. Dadurch scheint es bei der ersten Begehung, als ob die öffentlichen Räume Kattenturms eher auf Familien und Jugendliche ausgerichtet sind und es wenig öffentliche Foci für alleinstehende und alte Menschen gibt. Nach einer spontanen Befragung mit 12 Bewohnenden des Stadtteils wird dieser Verdacht bestätigt.[1]
[1] Bei der Straßenumfrage wurden 12 zufällige Bewohnende Kattenturms in Bezug auf ihre sozialen Kontakte innerhalb des Quartieres, das Entstehen von Kontakten und Form der Kontakte befragt. Dabei wurde kein fester Fragenkatalog abgearbeitet, sondern es wurde ein allgemeines Gespräch zum Sozialleben geführt.
Abb. 2: Freiräume in Kattenturm, vier Fotografien des Autors, Januar 2024.
Fazit
Es lässt sich sagen, dass Kattenturm nach den Ergebnissen meiner spontanen Befragung und der Besichtigung vor Ort bereits zum jetzigen Zeitpunkt besonders für Familien und Jugendliche einige Angebote zur sozialen Integration der Bewohnenden macht. Aber gerade für alleinstehende Menschen oder Erwachsene ohne Familie gibt es sehr wenige Foci außerhalb der Vereinsstrukturen, wie z.B. Bänke oder Orte, an denen man sich außerhalb der eigenen vier Wände aufhalten kann. Zudem sind viele der öffentlichen Grünflächen zu exponiert gelegen, als dass sie meiner Meinung nach angenehme Orte zum Aufenthalt darstellen könnten. Ein gewisses Maß an Exponiertheit ermöglicht soziale Kontrolle und Überwachung durch die Bewohnenden selbst, was den Ort sicherer und besser zum Leben macht. Ist der Ort aber zu exponiert oder unterliegt er zu starker Kontrolle, wird er ebenfalls unattraktiv.
In der Summe zeigt sich, dass die Architektur in einem Quartier sehr gut Angebote zu einem sozialen Zusammenleben und Integration machen und auch in gewisser Weise Einfluss auf das Quartier nehmen kann. Trotzdem werden das Gebiet und das soziale Zusammenleben am Ende vornehmlich durch seine Bewohnenden geprägt.
Quellen:
1. Keller, Karsten. „Problemviertel? Imageproduktion und soziale Benachteiligung städtischer Quartiere“, Bundeszentrale für politische Bildung, Mai 2015
2. Farwick, Andreas; Hanhörster, Heike; Knorn, Tobias; Ramos Lobato, Isabel; Staubach, Reiner; Striemer, Wiebke; Zilske, Denni: Soziale Integration im Quartier: Förderung von Netzwerken und Begegnungen in zwei benachteiligten Sozialräumen Dortmunds. (FGW-Studie Integrierende Stadtentwicklung, 11). Düsseldorf: Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung e.V. (FGW). 2019 https://www.ssoar.info letzter Zugriff: 17.4.24
3. BBSR, Neue Stadtquartiere, bbsr_online April 2021 https://www.bbsr.bund.de
4. Schnur, Olaf Quartier und soziale Resilienz, in BMI, Urbane Resilienz, 2021
5. Oswald, Anne von. Ress, Susanne. Pfeffer-Hoffmann, Christian. „Herausforderung: Zusammenleben im Quartier – Die Entwicklung von Wohnquartieren in Deutschland. Wahrnehmungen, Schwierigkeiten und Handlungsempfehlungen“. Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen, Mai 2009
6. Herrmann, Harald. Gatzweiler, Hans-Peter. Kaltenbrunner, Robert. „Lebensraum Stadtquartier – Leben im Hier und Jetzt“. Bundesamt für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, 31. Januar 2012 https://www.bbsr.bund.de
7. Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung. „Neue Leipzig Charta“. November 2020 https://www.bbsr.bund.de
8. Baugesetzbuch. 2023