Wofür ist das Quartier eine Lösung? Die Biodiversitätskrise als Beispiel

Rike Jakubigk, Studierende an der Hochschule Bremen

Beitrag aus dem Seminar „Quartiersforschung“ im Lehrgebiet „Theorie der Stadt“ an der School of Architecture Bremen, WiSe 2023/2024.

Wohnungsnahe Grünanlage in der Gartenstadt Bremen mit viel Potential für mehr biodiversitätsfördernde Maßnahmen auf Quartiersebene. Foto: Rike Jakubigk, 2021
Wohnungsnahe Grünanlage in der Gartenstadt Bremen mit viel Potential für mehr biodiversitätsfördernde Maßnahmen auf Quartiersebene. Foto: Rike Jakubigk, 2021

Mittlerweile ist bekannt, dass die Biodiversität auf der ganzen Welt abnimmt. Die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) versucht mit ihrer Zertifizierung deswegen unter anderem dem Rückgang der Biodiversität auf Quartiersebene entgegenzuwirken [4, Seiten 177,182]. Frei nach Olaf Schnur stellt sich daher die Frage: Ist das Quartier eine Lösung für die Biodiversitätskrise? [1]


Biodiversität zertifizieren

Die DGNB ist eine Gesellschaft, die Gebäude nach Nachhaltigkeitskriterien bewertet und je nach Erfüllungsgrad in Klassen zertifiziert. Das Planungs- und Optimierungstool der DGNB gibt es für Gebäude sowie auch für ganze Quartiere. Ziel der Zertifizierung ist „die Entwicklung von nachhaltigen, zukunftsfähigen Quartieren, in denen Menschen sich wohlfühlen können[…]“ [5]. Da die biologische Vielfalt eine Grundlage der menschlichen Existenz ist, ist dem Verlust dieser Vielfalt entgegenzuwirken [4, Seite 182f]. Das Kriterium „Biodiversität“ des Zertifizierungssystems ist ein Ausschlusskriterium, d.h. eine Zertifizierung kann nur erfolgen, wenn in dieser Kategorie ein Mindeststandard erfüllt wird [4, Seite 177]. Verschiedene Maßnahmen steuern der Erhaltung und, im besten Falle, Steigerung der Biodiversität bei. Dadurch sollen die Ökosysteme und ihre biochemischen Informationen erhalten bleiben und zusätzlich, unter anderem, die Lebensqualität im Quartier gesteigert werden [Ebd.].

 

„Fuzzy Place“ vs. klare Grenzen

Aber was genau ist ein Quartier? Der Quartiersbegriff ist im Kontext der Stadtplanung/-forschung nicht klar eingegrenzt. Quartiere entstehen durch ein subjektives Gefühl von Zusammengehörigkeit der Bewohner*innen an einem bestimmten Ort. Dadurch wird eine städtische Umgebung unter Einfluss verschiedenster Faktoren zu einem Quartier, einem gemeinsam erlebten Raum [3, Seite 2,7]. Olaf Schnur verweist auf die soziale Ebene eines Quartiers in seinen Texten und hält fest, dass es weder ein klares Innerhalb, noch ein eindeutiges Außerhalb des Quartiers gibt, sondern, dass sich Quartiere als „fuzzy places“ konzeptionell immer zwischen diesen Polen bewegen [1, Seite 17; sowie: 2, Seite 54].

Die DGNB definiert das Quartier jedoch anders: Je nach Leistungsphase wird der städtebauliche Entwurf oder Bebauungsplan mit seinen Grenzen herangezogen. Ausnahmen können festgelegt werden, jedoch muss das Quartiersgebiet zur Projektanmeldung vom Auftraggeber und der DGNB festgelegt werden und kann danach nicht mehr verändert werden [4, Seiten 26-28].

Von einer sozialen Ebene des Quartiers ist in der Definition der DGNB nichts zu finden. Wenn das Quartier noch in Planung ist, sind die Menschen, die dieses Quartier beleben und erst definieren sollen, noch nicht da. Und auch wenn es sich um ein Bestandsquartier handelt, haben die für die Zertifizierung herangezogenen Grenzen meist mehr mit der städtischen Architektur, als mit dem Zusammengehörigkeitsgefühl der Bewohner*innen zu tun – das sozial erlebte Quartier kann also ganz anders aussehen als das gebaute. Des Weiteren können sich ein Quartier und seine sozialen Grenzen mit der Zeit auch verschieben. Im Bebauungsplan ist diese Flexibilität oder die Logik eines „fuzzy places“ nicht enthalten.

Natürlich besteht von der Seite der DGNB die Notwendigkeit, ein Areal klar festzulegen, um eine Zertifizierung aussprechen zu können, jedoch ist der Kontrast zu Quartiersdefinition, wie sie unter anderem von Olaf Schnur geprägt wurde, groß. Ist der Quartiersbegriff an dieser Stelle also richtig gewählt? Oder anders: Ist es sinnvoll, die Biodiversitätskrise auf Quartiersebene ins Visier zu nehmen?


Animal-Aided Design

Essentiell für die Beantwortung dieser Frage sind natürlich die Tiere und Pflanzen selbst. Sie haben einen ganz anderen Raumbezug in ihren natürlichen Habitaten und werden sich wenig nach den von den Einwohnern*innen oder dem Bebauungsplan festgelegten Quartieren richten.

Die Beschreibung eines „fuzzy place“ kann für die Definition von Tierhabitaten ebenfalls gut herangezogen werden: auch für sie gibt es keine scharfen Grenzen. Stattdessen gibt es über den Lebenszyklus einer Art hinweg je spezifische Anforderungen an die Umgebung: Jagdreviere, Ruhe- und Nahrungsstellen sind unter anderem Faktoren, die bestimmen, ob ein bestimmter Ort als Habitat in Frage kommen kann und wo dieses Habitat grob anfängt und endet. Je nach Art gibt es verschiedene Bedürfnisse und einen anderen Anspruch an Raum. Die Qualität der Umgebung kann dabei die Habitatsgröße einer Art verkleinern oder vergrößern [6, Seiten 28-35].

Jedoch: Auch wenn Tiere und Pflanzen ganz andere räumliche Bezugsgrößen haben, kann die Quartiersebene trotzdem sinnvoll sein. Animal-Aided Design verfolgt den Ansatz, Tiere und ihre Habitate zu identifizieren und deren spezifische Bedürfnisse in die Entwurfsplanung von Quartieren mit einzubeziehen. Das Ziel ist das Etablieren von verschiedenen Tierarten und deren Lebensräumen in der Stadt [6, Seite 4].


Biodiversität in Bremen

Schaut man genauer auf das Land Bremen und seine Wiesen und Deiche, stellt sich die Frage: Wie steht es um die Biodiversität in Bremen und welche Rolle spielt das Quartier dabei, bzw. welche Rolle könnten Quartier spielen?

Die Frage, wie es der Biodiversität in Bremen geht, ist laut Alena Jöst, Referentin bei der Bremer Senatorin für Umwelt, Klima und Wissenschaft im Referat Naturschutz und Landschaftspflege, schwer zu beantworten [7]. Im Interview bestätigt sie, dass Biodiversität zu vielfältig sei, um auf Quartiersebene eine genaue Antwort darauf zu geben. Im urbanen Raum sind die Tier- und Pflanzenpopulationen stark fragmentiert, sodass das lokale Vorkommen einer Art keinen Rückschluss auf die Situation der Gesamtpopulation in Bremen zulässt. Biodiversität ist die genetische Vielfalt innerhalb der spezifischen Arten, die Artenvielfalt (Gesamtheit aller Arten) und die Vielfalt der Ökosysteme (Gesamtheit aller Habitate und Lebensräume), aber auch die Wechselwirkung zwischen und innerhalb der selbigen. Das alles als Ganzes zu erfassen und zu bewerten sei sehr komplex.

Frau Jöst berichtet, dass sich in Bremen derzeit viel für den Erhalt und die Förderung der Biodiversität tut. Es gibt Schutzgebiete mit guten Erfassungsdaten und viele einzelne Akteure, die zum Schutz der Biodiversität handeln, wie zum Beispiel der BUND (Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland) und der NABU (Naturschutzbund Deutschland). Das meiste Engagement im Stadtbereich geschieht aus Eigeninitiative. Zu nennen sind aber auch die Maßnahmen des Umweltbetriebs Bremen (UBB), der sich für mehr Artenvielfalt auf öffentlichen Grünflächen einsetzt. Darüber hinaus gibt es mehrere Gesetzgebungen, die richtungsweisend sind, aber leider oft nur übergeordnete Ziele formulieren und keine konkreten Maßnahmen einleiten. Als übergeordnete räumliche Planung gibt es zum Beispiel das Landschaftsprogramm der Senatorin für Umwelt, Klima und Wissenschaft, auf dessen Grundlage unter bestimmten Voraussetzungen (u.a. zu sichernde Grünfunktionen, Stadtteilgerechtigkeit) Grünordnungspläne oder Freiflächengestaltungspläne erstellt werden können, die auf der Ebene einzelner Stadtteile bzw. Quartiere konkretere Pläne für Freiräume oder Grünflächen festhalten [8]. Für private Haushalte haben diese Planungen wenig Bedeutung, sodass im kleinteiligen Siedlungsraum immer noch wenig Veränderung stattfindet – nur vereinzelt gibt es „kleine“ Gesetzgebungen, wie zum Beispiel ein „Schottergartenverbot“, geregelt im Begrünungsortsgesetz von 2023 [9]. 

Laut Frau Jöst ist Bremen das letzte Bundesland, das eine Biodiversitätsstrategie erstellt. Dabei sind für sie die gesetzlichen Rahmenbedingungen wie auch die vielen gesellschaftlichen Akteure von Relevanz, doch im Mittelpunkt stehen Kommunikation und Kooperation: Wie kann Biodiversität in allen Planungen und Prozessen mitgedacht werden? Wo kann Biodiversität jenseits von gesetzlichem Naturschutz gefördert werden? Wie können Verständnis und Akzeptanz für biodiversitätsfördernde Maßnahmen gesteigert werden und wie können Bürger*innen daran teilhaben? All das sind Fragen, die Frau Jöst in ihrer Erarbeitung einer Strategie beschäftigen. Antworten und vertiefende Details wird es im Herbst 2024 geben, wenn die Biodiversitätsstrategie durch die Bremische Bürgerschaft beschlossen wird. Als Strategie der Verwaltung wird diese zunächst auf übergeordneter Ebene, d.h. auf Landesebene, wirken. In der Umsetzung können einzelne Handlungsempfehlungen aber auf Quartiersebene konkretisiert werden. So soll Bremen zum Beispiel mit dem bald beschlossenen Haushalt auch ein Landes-Biodiversitätsprogramm bekommen, das sich durch die Aufwertung öffentlicher Flächen und Baumpflanzungen auf Quartiersebene auswirken wird.


Biodiversität auf Quartiersebene fördern

Eine solche Konkretisierung auf Quartiersebene wäre sehr zu wünschen. Die Fragen, die sich Frau Jöst in der Erarbeitung der Strategie stellt, verlangen geradezu nach der Quartiersebene als einer Ebene der Zusammengehörigkeit und Teilhabe. Das Quartier bietet ideale Ansatzpunkte für Bürger*innenbeteiligung und für eine Identifikation durch Teilhabe und somit auch für mehr Akzeptanz. 

Frau Jöst betont dementsprechend das Potenzial und die Möglichkeiten, die die Quartiersebene für die Förderung und den Schutz der Biodiversität bieten könnte: Die Ebene sei gut für kleine biodiversitätsfördernde Maßnahmen, die auf den Ort zugeschnitten sind. Sie erlaubten eine detailliertere Planung und böten Raum für die Bewohner*innen zum Mitentscheiden und Mitgestalten. Auch nur im Privaten wirksame Maßnahmen könnten große Wirkung entfalten, wenn durch das Miteinander-Reden und Nachfragen ein Netzwerk an Biotopen entstehen würde und dadurch vor allem in Nachbarschaften viele Bewohner*innen mitmachten. Das zusammen mit der Biodiversitätsstrategie in Entwicklung befindliche Insektenschutzprogramm bietet ihrer Meinung nach gute Anknüpfungspunkte. Die öffentlichen Grünanlagen und ihre naturnahe Pflege und Gestaltung sind durch das Flächenpotenzial der größte Umsetzungshebel, um Insekten als Stellvertreter und Indikator für eine vielfältige Fauna und Flora in der Stadt zu fördern. Naturnah gestaltete Freiräume und Gebäude(-teile), die kleine und Kleinstbiotope darstellen, das Mikroklima verbessern und eine hohe Aufenthaltsqualität für Anwohner*innen bieten, können als wertvolle Trittsteine die Biotopvernetzung stärken.


Das Quartier als Lösung…

Es ist unschwer zu sagen, dass das Quartier alleine die Biodiversitätskrise nicht einfach wird lösen können. Dennoch könnte die vielfältige Zusammenarbeit im Quartier – also die Kooperation in einem lokalen, sozialräumlich integrierten Netzwerk – dem Rückgang von Biodiversität entgegensteuern. Ein Quartier ist klein genug, um detailliert auf sein spezifisches Ökosystem einzugehen, und groß genug, um trotzdem einen flächenwirkenden Einfluss zu haben. Dafür müsste Biodiversität jedoch einen höheren Stellenwert bekommen, sei es im Hochbau, in der Stadtplanung oder in der Grünplanung und allgemein in der Architektur und Stadtentwicklung: Wenn Biodiversität von Anfang an als einer der Grundbausteine eines Vorhabens gelten würde, könnte viel besser darauf eingegangen werden und es stünden auch mehr finanzielle Mittel zur Verfügung. Deshalb sollte spätestens jetzt Biodiversität in alle Entscheidungen und Prozesse integriert werden. 

Für Frau Jöst ist dies der spannendste Aspekt ihrer Arbeit: „Wie können wir so leben, unsere Stadt so gestalten, dass die biologische Vielfalt so stabil ,funktioniert‘, dass sie dynamisch auf sämtliche Widrigkeiten reagieren kann? Biodiversität ist Lebensqualität“. Sie würde sich wünschen, dass vielfältige Strukturen geschaffen, Gebäude als Habitate erfasst – wie es bereits im Animal-Aided Design angedacht ist – und Biodiversität als Komponente der Nachbarschaft erfasst würden, die in jedem Planungsaspekt zu berücksichtigen ist. Eine gesunde Biodiversität bedeutet letztendlich nicht nur die Unterstützung von Tieren und Pflanzen, sondern auch eine gesunde Umgebung für uns Menschen.


Literatur

[1] Schnur, Olaf. 2021. Quartier als Schlüsselbegriff. In: BBSR (Hrsg.): Stadt gemeinsam gestalten. Neue Modelle der Koproduktion im Quartier, Bonn, Seite 13-17. ISBN 978-3-87994-537-5. [03.01.2024],

https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/veroeffentlichungen/sonderveroeffentlichungen/2021/stadt-gemeinsam-gestalten-dl.pdf;jsessionid=F596CBBC79501856E27948708189F384.live21301?__blob=publicationFile&v=2

[2] Schnur, Olaf. 2021. Quartier und soziale Resilienz. In: BMI (Hrsg.): Memorandum „Urbane Resilienz“. Wege zur robusten, adaptiven und zukunftsfähigen Stadt, Berlin, Seite 54-55. [03.01.2024], https://www.bmwsb.bund.de/SharedDocs/downloads/Webs/BMWSB/DE/publikationen/wohnen/urbane-resilienz.pdf;jsessionid=DAB4CCC14932E4D2B5F410C44F31C0F9.live891?__blob=publicationFile&v=4

[3] Willinger, Stephan. 2012. Lebensraum Stadtquartier – Leben im Hier und Jetzt. In: BBSR (Hrsg.): Informationen zur Raumentwicklung. Informationen zur Raumentwicklung. Lebensraum Stadtquartier – Leben im Hier und Jetzt, Heft 3/4, Stuttgart, Seite 1-8. ISSN 0303 – 2493. [03.01.2024], https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/veroeffentlichungen/izr/2012/3_4/Inhalt/izr-3-4-2012-komplett-dl.pdf?__blob=publicationFile&v=1

[4] Deutsch Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen. 2020. DGNB System. Kriterienkatalog Quartiere. DGNB GmbH (Hrsg.). [05.12.2023], https://static.dgnb.de/fileadmin/dgnb-system/de/quartiere/kriterien/DGNB-Kriterienkatalog-Quartiere-Kommentierungsversion-2020.pdf

[5] Kreißig, Johannes. 2023. Das DGNB System für Quartiere. Nachhaltige Quartiere planen und zertifizieren. DGNB GmbH. [06.11.2023], https://www.dgnb.de/de/zertifizierung/quartiere

[6] Hauck, Thomas E; Weisser, Wolfgang W. 2015. AAD – ANIMAL-AIDED DESIGN. Broschüre des vom Bayerischen Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz geförderten Projektes, Freising. ISBN 978-3-00-047519-1. [12.12.2023], https://animal-aided-design.de/portfolio-items/animal-aided-design/

[7] Jöst, Alena. Interview 30.01.2024. Referentin im Referat Naturschutz und Landschaftspflege bei der Senatorin für Umwelt, Klima und Wissenschaft.

[8] Die Senatorin für Klimaschutz, Umwelt, Mobilität, Stadtentwicklung und Wohnungsbau. Ohne Datum. Landschaftsprogramm Bremen, Teil Stadtgemeinde Bremen (Beschluss vom 22.04.2015, Druckfassung April 2016). [21.03.2024], https://www.lapro-bremen.de/assets/Lapro-Plan/Karten_Plaene/01_Lapro_Textband_Pub_1604_small.pdf

[9] Frei Hansestadt Bremen, 2023. Neufassung eines Ortsgesetzes über die Begrünung von Freiflächen und Flachdachflächen in der Stadtgemeinde Bremen (Begrünungsortsgesetz Bremen) vom 28. März 2023. [21.03.2024], https://bau.bremen.de/sixcms/media.php/13/Neufassung%20Begr%C3%BCnungsOG%20vom%2028.03.2023%20mit%20Begr%C3%BCndung.pdf


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