Gesundheitsförderung und -vorsorge im Quartier, in der Kommune und im ländlichen Raum – eine interdisziplinäre und mehrdimensionale Aufgabe

Kerstin Faber, Tanja Korzer, Ulrike Leistner, Christiane Lütgert, Karolin Pannike, Karoline Schubert, Tim Tröger, LG Mitteldeutschland

Nicht erst seit der Corona-Pandemie hat das Thema Gesundheit in der Stadt- und Quartiersentwicklung stark an Bedeutung gewonnen. 

Vor dem Hintergrund aktueller Transformationstreiber und -erfordernisse (wie z. B. demografischer Wandel(1), Klimawandel(2), Verkehrswende etc.) verdeutlichte die 2020 auf europäischer Ebene beschlossene neue Leipzig Charta den Einfluss der Stadtentwicklung auf die Gesundheit der Bevölkerung. „Die Charta beschreibt mit der gerechten, grünen und produktiven Stadt drei Dimensionen gemeinwohlorientierter Stadtentwicklung und zählt hierzu ausdrücklich ein gesundes Lebensumfeld, gesunden Wohnraum, ein gesundes Stadtklima, eine ausreichende Gesundheitsversorgung und Umweltgerechtigkeit für alle gesellschaftlichen Gruppen.“(3)

Entsprechend dieses integrierten Ansatzes ist Gesundheitsförderung und -vorsorge sowohl im Quartier, in der Kommune als auch im ländlichen Raum als interdisziplinäre und mehrdimensionale Aufgabe zu verstehen(4), die neben der Gewährleistung sozialer und medizinischer Versorgung, z. B. den Abbau sozialräumlicher Segregation, Förderung nachhaltiger Mobilität, Erhalt und Entwicklung urbanen Grüns sowie die Ermöglichung von Partizipation einschließt.(5)

Anhand von drei Beispielprojekten zeigt die LG Mitteldeutschland zeitgemäße Lösungs- und Verstetigungsansätze für gesundheitsfördernde Quartiersentwicklung auf. Mit Blick auf die Vielschichtigkeit der Herausforderungen werden bewusst verschiedene Maßstabsebenen und Zielgruppen in den Fokus genommen.

  • Quartiersebene: Begegnungs- und Bewegungszentrum Niedersachsenplatz Halle-Neustadt
  • Gesamtstadt: Kommunaler Strukturaufbau für mehr Gesundheit im Quartier in Leipzig
  • Ländlicher Raum: Gesundheitskioske Seltenrain der IBA Thüringen
 

1. Begegnungs- und Bewegungszentrum Niedersachsenplatz Halle-Neustadt

Am Niedersachsenplatz in Halle-Neustadt befindet sich eine Kaufhalle aus DDR-Zeiten, die ca. 20 Jahren ungenutzt war und verfiel. Hier entsteht seit 2021 das „Begegnungs- und Bewegungszentrum“ der Halle-Neustädter Wohnungsgenossenschaft e. G., eine neue Form eines Stadtteilzentrums für das Wohnquartier. Das Projekt beschäftigt sich mit drei großen Themenfeldern: Demografische Entwicklung, Vereinsamung und Digitalisierung sowie deren Auswirkungen auf das Leben im Quartier. 

Im Kern wird das Ziel verfolgt, Angebote für bedarfsgerechte und bezahlbare Unterstützung (Wohnen, Sozialdienste, Gesundheit, Pflege etc.) zu etablieren, die notwendigen Voraussetzungen für ein Wohnen in den eigenen vier Wänden bis ins hohe Alter und im Pflegefall sind. Das gilt allgemein als erstrebenswert und ist (gesundheits-)ökonomisch betrachtet die günstigste Variante denkbarer Versorgungsformen. Gleichzeitig sollen die Bedürfnisse aller Bewohner:innen im Quartier unter dem Aspekt der gesellschaftliche Teilhabe, des nachbarschaftlichen Miteinanders und der Gesundheitsvorsorge Berücksichtigung finden. Das Stadtteilzentrum wird dementsprechend in drei Themenkomplexe aufgegliedert; Sportangebote für alle Altersgruppen bis hin zum Profisport, Pflege und Gesundheit mit direkten, aber auch mit durch die Pflegekassen finanzierten Unterstützungs- und Beratungsangeboten sowie Veranstaltungen, Kommunikation und Gemeinschaftserlebnisse. Von den digitalen und Vor-Ort-Angeboten profitieren aber auch alle Bewohner:innen, die keine Mieter:innen der Genossenschaft sind. 

In Kooperation mit Akteuren aus der Wissenschaft, dem Bereich der Gesundheits- und Sozialdienstleistungen, der Zivilgesellschaft und der öffentlichen Verwaltung wurde ein Projektkonsortium gegründet, das im Sinne von sozialen Innovationen neben dem Quartierszentrum als Einrichtung „vor Ort“ auch ein technisches Unterstützungssystem entwickelt hat. 


2. Kommunaler Strukturaufbau für mehr Gesundheit im Quartier in Leipzig

Wie kann Gesundheitsförderung in Quartieren dauerhaft verankert werden? Welche kommunalen Hilfe- und Unterstützungsstrukturen braucht es dafür? Und wie gelingt es die Bewohner:innen aller Altersgruppen darin zu stärken, ihr gesundes Lebensumfeld selbst (mit)zugestalten? Diesen Fragen stellt sich die „Koordinierungsstelle kommunale Gesundheit“ in Leipzig, die als Schnittstellenmanagement zwischen Quartiers- und kommunaler Steuerungsebene fungiert, um top-down mit bottom-up Strukturen effektiv zu verknüpfen (parallel tracking). In einem strategisch orientierten Ansatz wurde dafür u.a. der „Koordinierungskreis Gesundes Leipzig“ mit Vertreter:innen aus allen städtischen Fachämtern und weiteren relevanten Gesundheitsakteur:innen etabliert, um gemeinsam ressortübergreifende Lösungen für gesundheitsbezogene Herausforderungen zu ermöglichen. Im Sinne des Ansatzes „Health in All Policies“ (HiAP) ist Gesundheit seit der Beschlussfassung 2018 als eines der Querschnittsthemen im Integrierten Stadtentwicklungskonzept Leipzig 2030 (INSEK) verankert. Hierdurch wird unterstützt, dass Ansätze zur Gesundheitsförderung in relevante Fachplanungen sowie gezielt in Schwerpunkträume mit besonderen Entwicklungsbedarfen (Schwerpunkträume der integrierten Stadtteilentwicklung sowie Aufmerksamkeitsgebiete) einfließen, unter anderem über die Stadtteilentwicklungskonzepte. 

In den Quartieren mit besonderem Handlungsbedarf wurden Quartiersnetzwerke mit Stadtteilakteur:innen auf- und ausgebaut, um aktuelle gesundheitsbezogene Bedarfe auf Quartiersebene im Rahmen eines koordinierten integrierten Partnerprozesses bearbeiten zu können. Flankierend dazu wurden ein von Krankenkassen poolfinanzierter „Verfügungsfonds Gesundheit“ erprobt (2015-2025). Dieser gilt als Vorreiter für das derzeitige sächsische Förderprogramm „Gesundheit im Quartier“ mit jeweiligen Settingbudgets, um gemeinsam mit Stadtteilakteur:innen und Bewohner:innen niedrigschwellig auf die konkreten Bedarfe zugeschnittenen Gesundheitsförderungsprojekte in Quartieren zu entwickeln und umzusetzen. Ein Beispiel ist das Projekt „Grünau kocht!“, bei dem sich fünf verschiedene Einrichtungen für Kinder, Jugendliche und Senior:innen zusammengeschlossen haben, um unter anfänglicher Anleitung einer qualifizierten Fachkraft regelmäßig in ihren jeweiligen Einrichtungen klima-gesund zu kochen mit dem Ziel, dass dadurch möglichst an allen Wochentagen im Quartier eine kostenfreie warme Mahlzeit angeboten wird. Geplant ist, dabei auch lokale landwirtschaftliche Initiativen mit einzubinden.

Vorbereitet wurde diese Verankerung von HiAP durch die Arbeit des Gesunde-Städte-Netzwerks, dem Leipzig 2011 beigetreten ist, und dem wissenschaftlichen Begleitprojekt zur Etablierung der Koordinierungsstelle Gesundheit (2014-2016) durch die Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK Leipzig), dass von der AOK PLUS und der Stadt Leipzig gefördert und dauerhaft als Personalstelle im Gesundheitsamt der Stadt verstetigt wurde.


3. Gesundheitskioske Seltenrain der IBA-Thüringen

Bereits seit 2019 bauen die gemeindeübergreifende Stiftung Landleben und der angeschlossene Verein Landengel e. V. ein neues Gesundheits-, Pflege- und Versorgungsnetzwerk für die ländliche Region Seltenrain im Thüringer Becken auf. Damit ist ein Kernthema des ländlichen Raumes angesprochen, nämlich wie man Versorgungssicherheit gewährleistet und gleichzeitig den sozialen Zusammenhalt organisiert. Im Rahmen der IBA Thüringen wurden dazu vier Gesundheitskioske in einer zeitgenössischen Holzbauweise errichtet, sie befinden sich in zentraler Ortslage, stets am Standort der Bushaltestellen. Das Konzept zielt darauf, nicht nur Gesundheitsdienstleistungen anzubieten, sondern soziale Isolation zu vermeiden und Pflege, Altenhilfe und das Wohlfahrtswesen in ländlichen Regionen zu vereinen. Laut der Bertelsmann Stiftung(6) stehen bei der gesundheitlichen Versorgung drei Aspekte im Zentrum: „Erstens ist eine konsequente, nutzenstiftende Digitalisierung nötig, sowohl bei den medizinischen Angeboten als auch in der Arzt-Patienten-Kommunikation. Zweitens müssen die Versorgungsstrukturen zugunsten integrierter regionaler Modelle umgebaut werden. Und drittens brauchen wir eine gezielte Förderung von Gesundheitskompetenz in der Gesellschaft, damit die Menschen ihre eigene Gesundheit aktiv mitgestalten können.“ Alle drei Aspekte kann das Konzept der regionalen Gesundheitskioske abdecken. Die Bevölkerung kann sich in den Kiosken zu allen gesundheitlichen und sozialen Belangen beraten lassen und muss dank Telemedizin für Untersuchungen nicht mehr weit fahren. Die Kioske werden durch Gemeindeschwestern betreut, die je Quartal insgesamt rund 400 Menschen beraten und unterstützen. Die Region Seltenrain wird damit zum Modellfall für die Vorsorge auf dem Land und zeigt, dass in Zeiten des demografischen Wandels gute Angebote für mehr Lebensqualität auch abseits der Stadt mit Hilfe engagierter Akteur:innen möglich sind.

Der Input stellt das realisierte Konzept der Gesundheitskioske im ländlichen Raum vor, erläutert den Unterschied zum Bundeskonzept der Gesundheitskioske, dessen Förderung aus Kostengründen abgelehnt wurde, und stellt zur Diskussion, wie die integrierte Planung die Versorgung ländlicher Regionen und ihre Akteure effektiv unterstützen kann.


Literatur

  1. Bevölkerungsprognose Bertelsmann Stiftung (2024): https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2024/april/bevoelkerungsentwicklung-in-deutschland-verlaeuft-bis-2040-regional-sehr-unterschiedlich, Abruf am 15.05.24.
  2. Herausforderungen durch Hitzeinseln mit Blick auf die Beeinträchtigung vor allem vulnerabler Gruppen (ältere und kranke Menschen): siehe dazu die Klage der Schweizer „Klima-Omas“ vor der großen Kammer des Europäischen Gerichts für Menschenrechte (EGMR), die entschied, dass Klimaschutz Menschenrecht ist (https://www.dw.com/de/europ%C3%A4isches-gericht-klimaschutz-ist-menschenrecht/a-68777520). In der Folge wird es langfristig und zukünftig verstärkt darum gehen, wie der Klimaschutz ausgebaut und die gebaute Umwelt sich den Auswirkungen des Klimawandels anpassen kann, um die Lebensqualität im besten Fall nicht nur von Menschen zu schützen.
  3. Neue Leipzig Charta 2020
  4. Baumgart, Sabine: Räumliche Planung und öffentliche Gesundheit – eine historische Verknüpfung, in: Sabine Baumgart, Heike Köckler, Anne Ritzinger, Andrea Rüdiger (Hrsg.) (2018): Planung für gesundheitsfördernde Städte, Forschungsberichte der ARL 08
  5. Böhme, C., Köckler, H. & Quilling, E. (2023). Gesundheitsfördernde Stadtentwicklung. In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Leitbegriffe der Gesundheitsförderung und Prävention. Glossar zu Konzepten, Strategien und Methoden.
  6. https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/ueber-uns/wer-wir-sind/organisation/vorstand/gesundheit, Abruf am 15.05.24.

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