Marleen Lagemann, Studierende an der Hochschule Bremen
Beitrag aus dem Seminar „Quartiersforschung“, Lehrgebiet „Theorie der Stadt“ an der School of Architecture Bremen, WiSe 2023/2024.
Nachbarschaft
Auf die Frage, was eine gute Nachbarschaft ausmacht, gibt es wohl, wie bei der Definition des Quartiers, keine alleingültige Antwort. Jeder Mensch hat verschiedene Ansprüche und Erwartungen an seine Nachbarschaft und zeigt unterschiedlich starkes Interesse an eben dieser. Doch was können wir tun, um unsere Nachbarschaft zu stärken und welche Rolle spielt dabei die vorhandene bauliche Struktur? Räumlich gesehen betrachte ich im Folgenden die Nachbarschaft als die Straße, in der gewohnt wird. Diese liegt wiederum im Quartier.
Das Quartier ist ein Ort mit verschiedenen Nachbarschaftsnetzwerken. Bernd Hamm definiert die Nachbarschaft als „soziale Gruppe, die primär wegen des gemeinsamen Wohnorts interagiert“ (1). Welche Bedeutung jedoch die Nachbarschaft für einen Menschen hat, hängt von der jeweiligen Lebensphase, der Lebenslage und des Lebensstils ab. Wie sich Nachbarschaft gestaltet hat wiederum mit der Bevölkerungsstruktur, der Bebauung und den politischen Rahmenbedingungen zu tun (ebd.). Olaf Schnur ergänzt mit Blick auf das Quartier: „Das Quartier ist wichtig – als Mittelpunktort, als Lebenswelt, als Sozialraum und als professionelle Handlungsebene“ (4).
Die Relevanz von Nachbarschaft ist abhängig vom gesamtgesellschaftlichen sowie vom lokalen Kontext. Nachbarschaften entwickeln sich immer weiter und werden vielfältiger und unübersichtlich. Hilfsbereitschaft und Unterstützung in Notlagen, Sozialisation von Kindern und Neuzugänger:innen, Kommunikation (wichtige Informationen oder einfach Gartenzaun- oder Treppenhausgespräche) sowie soziale Kontrolle sind hierbei zentrale Punkte (1). Privatheit und Öffentlichkeit treffen sich in jeder Nachbarschaft und prallen aufeinander, so wie auch Haus und Straße es tun. Gerade der Bereich vor dem Haus, als Übergang von Privat zu Öffentlich, steht stark im Zusammenhang mit nachbarschaftlichen Verhältnissen und ist ein zentraler Ort der Begegnung.
Bewohner eines Quartiers wünschen sich häufig ein vielfältiges Angebot sowie ein freundliches und sicheres Wohnumfeld (2). Das nachbarschaftliche Miteinander hat große Auswirkungen auf die Zufriedenheit von Wohnsituation und Wohnumfeld und ein verlässliches soziales Netzwerk, Unterstützung sowie eine Gemeinschaft sind wichtig (3).
Ob eine Nachbarschaft als gut funktionierend angesehen wird, liegt nicht selten an der Tatsache, wie das eigene Wohlbefinden in eben dieser wahrgenommen wird und ist somit eher subjektiv zu betrachten. Während sich eine Person in einer Straße vielleicht unwohl fühlt, kann es bei einer anderen wieder ganz anders aussehen. Hier spielen also auch der eigene Charakter sowie das Interesse an der eigenen Umgebung eine Rolle. Allgemein sind aber Aspekte wie Wohlbefinden, Sicherheit, Hilfsbereitschaft sowie ungezwungene Unterhaltungen Teil einer guten Einführung in die Nachbarschaft. Mit Blick auf das Quartier können wir also festhalten: „Nur die Menschen, die im Stadtquartier leben, arbeiten oder dort ihre Freizeit verbringen, können das Quartier mit Leben erfüllen“ (2).
Ein Straßenzug aus Bremer Häusern
Im Folgenden wird eine Nachbarschaft in Bremen Hastedt untersucht, die meiner Meinung nach der Definition einer guten Nachbarschaft ziemlich nahe kommt. Die besagte Straße befindet sich im Stadtteil Hemelingen, Ortsteil Hastedt, und liegt in unmittelbarere Nähe zum Weserwehr sowie zum Hansa Carré und der Föhrenstraße. Die Reihenhaussiedlung ist umschlossen von drei, viel befahrenen Straßen, an die ein kleines Gewerbegebiet sowie eine Bahntrasse und weitere Reihenhaussiedlungen angrenzen. Die bauliche Struktur der Straße weist eine klassische Reihenhausbebauung mit Bremer Häusern aus der Nachkriegszeit auf. Das Bremer Haus prägt vielerorts das Stadtbild und ist ein schmales, nach hinten gestrecktes Reihenhaus mit Souterrain. Auf der Straßenseite führen in der Regel halbe Treppenläufe hinauf und hinab, zum Garten hin sind die Häuser ebenerdig. Sie verfügen über einen Vorgarten als Zwischenzone zur Straße sowie über einen, der Hausform entsprechenden, schmalen länglichen Garten auf der Rückseite. Die Typologie des Bremer Hauses ist darauf zurückzuführen, dass Mietskasernen und Hinterhofbebauungen zu ihrer Bauzeit (1850–1920) untersagt waren (5).
Die Häuserzüge in der hier untersuchten Nachbarschaft leuchten in vielen Farben. Einige der Häuser sind ebenerdig, andere durch eine kleine Treppe zum Hochparterre erreichbar. Manche weisen Vorsprünge oder Dachgauben auf, einige sind vier-, andere wiederum nur zweigeschossig. Die meisten haben ein Satteldach. Sie stehen aufgereiht in einer Linie, wie Perlen auf einer Schnur. Der Straßenraum ist eng und an beiden Seiten zugeparkt mit Autos. Lediglich an manchen Tagen, zu bestimmten Uhrzeiten, weitet er sich. Die Vorgärten könnten unterschiedlicher nicht sein, mal mit Zaun und Stufe als Abgrenzung zum Straßenraum, mal ohne, mal gepflastert, mal mit großem Beet, mal mit kleinen Blumentöpfen ausgestattet, mal mit einem ganzen Baum.
Durch das ganze Jahr
Sobald im Frühling die ersten Sonnenstrahlen auf die Fassaden scheinen, finden die Bewohner ihren Weg vor die Haustür. Sie sitzen teilweise schon ab Februar auf den Stufen vor dem Haus, halten das Gesicht in die Sonne und führen Smalltalk mit vorbeikommenden Spaziergehenden oder den Nachbarn rechts und links auf ihren eigenen Treppen. Der Vorgarten mit der typischen Treppe der Bremer Häuser ist, genau wie der Garten hinter dem Haus, ein zentraler Punkt, an dem sich die Nachbarn begegnen aber dennoch in ihrem eigenen Bereich bleiben. Insbesondere der Vorgarten der Bremer Häuser ist ein wichtiger und sehr geschätzter Übergangsbereich, ein Begegnungsort: nicht privat aber auch nicht ganz öffentlich.
Man kann sich sicher sein, dass man nicht allein ist, wenn man bei gutem Wetter vor die Tür tritt. Die Pläuschchen, die man über das Jahr am Vorgartenzaun hält, verlegen sich im Hochsommer zudem an die Gartenzäune auf die Rückseiten der Häuser, da es vorne auf der Südseite bei sonnigem Wetter kaum auszuhalten ist. Beim großen Straßenfest im September ist die Straße für Autos gesperrt, es werden Tische und Bänke nach draußen getragen und jeder steuert etwas zum Buffet bei. Am Tag des Straßenfestes gehört die Straße nicht dem Verkehr, sie wird zum Aufenthaltsort. Die Nachbarn kommen alle zusammen und sitzen oder tanzen bis spät in die Nacht auf der Straße. Neigt sich das Jahr dem Ende zu, kommen alle am 23. Dezember zum Glühweintrinken zusammen und auch das neue Jahr wird gemeinsam vor dem Haus begrüßt.
Mehr als Fremde
In dieser Nachbarschaft gibt es eine WhatsApp-Gruppe in der über verschwundene und wiedergefundene Katzen sowie bevorstehende Stromausfälle informiert wird. Wenn jemand etwas benötigt, kann hier nachgefragt werden – und da die Hilfsbereitschaft und das Interesse an einem schönen Zusammenleben innerhalb der Straße groß ist, wird in der Regel schnell geholfen. Dennoch beteiligen sich bei weitem nicht alle Nachbarn. Niemand wird gezwungen, wer nicht möchte muss nicht mitmachen. Es sind immer die gleichen Menschen, die Interesse zeigen, der „harte Kern“, wie er hier genannt wird. Manchmal trifft man einen Nachbarn beim Einkaufen und hält ein kleines Pläuschchen, tauscht sich aus, was es so neues gibt. Aber das war es dann eben auch. Man weiß von seinen Nachbarn, wann sie zur Arbeit fahren, aber nicht unbedingt, was sie am liebsten zu Abend essen. Vielleicht macht genau dies eine Nachbarschaft aus: Nachbarn sind für gewöhnlich mehr als Fremde – aber eben auch weniger als Freunde.
Bauliche Vorgaben und Engagement
Der Ortsteil Hemelingen, der direkt an Hastedt grenzt, ist eines der Fördergebiete des Programms WiN (Wohnen in Nachbarschaften). Hemelingen ist ein sehr durchmischter Ortsteil und in einigen Straßen sind die Probleme deutlich geringer als in anderen (6). Die Nachbarschaften in einem Stadtteil oder auch in einem Quartier können sehr verschieden sein und eben das macht sie einzigartig und interessant.
Bauliche Vorgaben, hier im Sinne des Reihenhaustypus „Bremer Haus“, sind in einem Quartier sowie in einer Nachbarschaft ausschlaggebende Grundlagen. Was daraus gemacht wird ist den Bewohnern selbst überlassen und erfordert eigenes Engagement und Interesse.
Nicht jeder zeigt Interesse an seiner Nachbarschaft doch die, die es tun, erfahren Hilfsbereitschaft, Unterstützung, Sozialisation und Kommunikation. Das nachbarschaftliche Miteinander ist wichtig für das Wohlbefinden und die Zufriedenheit im eigenen Wohnumfeld. Der Übergang von Öffentlichkeit zur Privatheit ist sowohl ein bauliches als auch ein gesellschaftliches Thema, das, wenn es gut gelöst ist, eine Nachbarschaft fördert.
Literaturverzeichnis:
(1) Hannemann, Christine; Othengrafen, Frank; Pohlan Jörg; Schmidt-Lauber, Brigitta; Wehrhahn, Rainer „Jahrbuch StadtRegion 2019/2020 Schwerpunkt: Digitale Transformation“, Springer Verlag, (2020), S. 7-11
(2) Böcker, Mone und Gumprecht, Vicky: „Ein kooperatives Trägermodell: das Nachbarschaftszentrum ,Elbschloss an der Bille‘“, in: BBSR (Hrsg.) „Lebensraum Stadtquartier – Leben im Hier und Jetzt“, Heft 3/4.2012, S. 143-156, hier S. 143.
(3) Von Oswald, Anne; Ress, Susanne; Pfeffer-Hoffmann, Christian: „Herausforderung: Zusammenleben im Quartier, die Entwicklung von Wohnquartieren in Deutschland. Wahrnehmungen, Schwierigkeiten und Handlungsempfehlungen“, Minor – Wissenschaft Gesellschaft GmbH, (2019), S. 48.
(4) Schnur, Olaf: Quartier als Schlüsselbegriff, in: BBSR (Hrsg): gemeinsam Stadt gestalten, Bonn: BBSR, (2021), 13-17
(5) Bremen Tourismus: „Bremer Häuser“, (2024) https://www.bremen.de/leben-in-bremen/bremer-haus
(6) Freie Hansestadt Bremen „WiN – Wohnen in Nachbarschaften“, ohne Datum: https://www.sozialestadt.bremen.de/programme/win-wohnen-in-nachbarschaften-3534. Sowie: Freie Hansestadt Bremen „Programm Wohnen in Nachbarschaften (WiN)“, ohne Datum: https://www.soziales.bremen.de/soziales/soziale-stadtentwicklung/programm-wohnenin-nachbarschaften-win-2891
Weitere Quellen zum Thema:
Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR)
Information zur Raumentwicklung, Heft 3/4.2012
Willinger, Stephan: „Lebensraum Stadtquartier – Leben im Hier und Jetzt“ , Franz Steiner Verlag, 2021
Bürgin, Matthias; Mayer, Amelie-Theres; Schwehr, Peter: „Nachhaltige Quartiersentwicklung im Fokus flexibler
Stadtstrukturen“, vdf Hochschulverlag AG an der ETH Zürich, 2011
Becker, Martin: „Lebensqualität im Stadtquartier Evaluationsstudie über die Stadtteil- und Familienzentren in Offenburg“, Freiburg, (2003), 5. Kapitel
Krings-Heckemeier, Marie-Therese; Heckenroth, Meike; Kleinhans, Katrin: „Attraktives Wohnen im Quartier Dokumentation der Fallstudien im Forschungsfeld„ Innovationen für familien- und altengerechte Stadtquartiere“, ExWoSt, Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Bonn, (2008), S.10-14, 44-48
Willinger, Stephan; Hackenberg, Katharina: „Ankunftsstädte gestalten, Impulse aus den Pilotprojekten“, Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR), Bonn (2021), S. 61-69
Schnur, Olaf; Drilling, Matthias; Niermann, Oliver: „Quartier und Demokratie“, Springer Verlag, (2019)
Hilti, Nicola; Lingg, Eva: „Sozialraum, eine elementare Einführung“, Springer Verlag, (2022)
Wow, dieser Beitrag hat mich echt berührt! Deine Einblicke in das Thema Nachbarschaft und wie wir sie aktiv gestalten können, sind nicht nur inspirierend, sondern auch unglaublich praktisch. Danke, dass du dein Wissen und deine Erfahrungen mit uns teilst!