Julia Neumann, Studierende
an der Hochschule Bremen
Beitrag aus dem Seminar „Quartiersforschung“, Lehrgebiet „Theorie der Stadt“ an der School of Architecture Bre-men, WiSe 2023/2024.
Die Überseeinsel in Bremen erlebt aktuell eine städtebauliche Entwicklung, die von einem durchdachten Masterplan geleitet wird. Schlüsselprojekte wie die Überseestadt Schule, die Kellogg-Höfe, der Kellogg-Pier, das Wohnquartier Stephanitor und ein Gesundheitszentrum mit Schwimmbad bilden das Herzstück dieser Transformation. Eine detaillierte Übersicht der geplanten Projekte finden sich in der Projektbroschüre und auf der Website. Die bevorstehende Entwicklung der Überseeinsel birgt aber sowohl Chancen als auch Herausforderungen, die einen tiefgreifenden Einfluss auf die soziale Dynamik und Gemeinschaftsstruktur des neuen Standorts für Wohnen und Arbeiten haben können.
Die nachfolgende Betrachtung wird sich auf zwei Schlüsselaspekte für diese Chancen und Herausforderungen konzentrieren, um einen ersten Einblick in die Komplexität der angestoßenen Entwicklung zu bieten. Die Anwendung eines ikonografischen Ansatzes ermöglicht die Auseinandersetzung mit den visuellen Elementen und erlaubt es, dessen symbolische Bedeutung und Kontext zu deuten. Durch die Verbindung von Text und Bildmaterial können wir ein Verständnis für die Thematik entwickeln und Einblicke in die spezifischen visuellen Repräsentationen der Überseeinsel Bremen gewinnen.
Förderung von sozialer Interaktion: Geplante Freiräume und Einrichtungen schaffen Möglichkeiten für belebende Veranstaltungen und Aktivitäten in der Nachbarschaft
Eine entscheidende Rolle in diesem Kontext spielt die bewusste Gestaltung von Freiräumen und Einrichtungen. Die Landschaftsarchitekten Loidl und Bernard betonen diesbezüglich, dass Einfachheit ein zentrales Qualitätsmerkmal des Entwurfs ist, welche sich durch eine gezielte Reduzierung von gestalterischen Elementen manifestiert: Sie beschreiben dies als „weniger unterschiedliche Gestaltkomponenten, weniger formale und materielle Unterschiede, also weniger Vielfältigkeit, weniger ,Aisthetik‘“. Eine solche Einfachheit ermöglicht eine präzise und starke Umsetzung, die darauf abzielt, soziale Interaktion zu fördern. Sie wirkt zudem auch einer ästhetischen Überstimulierung entgegen, was bedeutet, dass die Bewohnenden und Besuchenden nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich zur Ruhe kommen können. Die Freiräume sind nicht nur „,Anschauungs‘-Objekte“, sondern dienen als „Handlungsanweisungen und Anregungen für (oft recht unterschiedliche)“ menschliche Aktivitäten. Hier zeigt sich, dass die Umsetzung von Einfachheit in der Freiraumgestaltung automatisch eine lebendige Vielfalt von menschlichem Verhalten und Handlungsspuren enthält.
Die Freiflächen auf der Überseeinsel in Bremen, mit einer Gesamtfläche von über einem Hektar, werden durch die gezielte Reduzierung von Autos zu Zonen für soziale Interaktionen umgestaltet. Diese Flächen erstrecken sich in Form von Grünanlagen zwischen den Quartieren, sowie als Parks und Hafenpromenaden (Rahmenplanung und Quartiersplanung: SMAQ, mit Man Made Land (Landschaftsarchitektur), gruppeomp mit nsp (Landschaftsarchitektur) und Argus (Verkehrsplanung)). Die Vielfalt der Freiräume ermöglicht unterschiedliche Nutzungsmöglichkeiten, von sportlichen Aktivitäten bis hin zu kulturellen Veranstaltungen. Die grünen Bereiche zwischen den Quartieren schaffen Verbindungen und Durchgänge. Diese Bereiche könnten als Treffpunkte für Spaziergänge, Gespräche oder kleine Veranstaltungen genutzt werden, wodurch die Bewohnenden miteinander in Kontakt treten. Parks und Hafenpromenaden bieten Flächen für verschiedene Freizeitaktivitäten. Hier könnten zum Beispiel Sportevents oder Picknicks stattfinden, die die Bewohnerinnen und Bewohner zusammenbringen.
Zusammenfassend bietet die geplante Gestaltung von Freiräumen das Potenzial nicht nur ästhetischer Vorteile, sondern auch dafür, aktiv Möglichkeiten für belebende Veranstaltungen und Aktivitäten in der Nachbarschaft zu schaffen. Dies kann zur Entwicklung einer lebendigen, sozial vernetzten Gemeinschaft beitragen.
Auch verschiedene Wohnformen tragen zu einer vielfältigen Gemeinschaft bei. Die Diversifizierung des Wohnungsangebots in der Überseeinsel könnte potenziell eine breite Palette an Bewohnenden anziehen. Durch die Planung verschiedener Wohnformen entsteht eine Wohnstruktur, die den unterschiedlichen Bedürfnissen und Lebensstilen gerecht werden könnte. Die Kulturwissenschaftlerin Stephanie Weiss hebt diesbezüglich jedoch hervor, dass Fragen der Wohnkultur oft in planerischen und architektonischen Diskursen auf ihre ästhetische und gestalterische Bedeutung beschränkt werden. Sie argumentieren stattdessen dafür, dass innovative Wohnkonzepte wie Wohngemeinschaften für verschiedene Altersgruppen und genossenschaftliches Wohnen eine Renaissance erfahren und als sozialpolitische Strategien für die Erhaltung von (Familien-)Wohnen und die Realisierung gemeinschaftlicher, individueller und zeitgemäßer Wohnformen betrachtet werden sollten. In dem Überseeinsel-Quartier Stephanitor werden in diesem Sinne innovative Wohnformen integriert, so zum Beispiel in dem Wohngewächshaus der Architekten Delugan Meissl Associated Architects (DMAA) aus Wien. Diese wegweisende architektonische Initiative eröffnet vielfältige Möglichkeiten für das Entstehen neuer Gemeinschaften, in denen Menschen mit ähnlichen Interessen zusammenfinden können. Zukünftig werden sie Begegnungsorte direkt vor ihrer Haustür oder auf den Dächern vorfinden (s. Abb. 4).
Auch die geplanten Kellogg-Höfe, mit Wohnungen, Atelierterrassen und Gastronomie, können beispielsweise Künstlern, Familien, Singles und Unternehmern eine passende Wohnform finden. Diese Wohnoptionen könnten nicht nur sozioökonomische Diversität schaffen, sondern ermöglicht auch die Entstehung einer Gemeinschaft, in der verschiedene Generationen und Lebensstile auf Gebäude- und Quartiersebene miteinander interagieren können. Der Kellogg-Pier, der mit einem Hotel, einer Marina, Gewerbeflächen und einem Café unterschiedliche Wohn- und Aufenthaltsmöglichkeiten bietet, zieht möglicherweise sowohl Bewohnende als auch Besuchende an. Dies trägt zur sozialen Dynamik des Quartiers bei und könnte auch kulturelle Vielfalt und Interaktionen fördern.
Soziale Segregation trotz Vielfalt: Gefahr der Entwicklung getrennter sozialer Gruppen
Trotz der angestrebten Vielfalt könnte die soziale Segregation eine potenzielle Herausforderung darstellen. Die Geografin Andrea Nieszerys wirft in einem deutsch-französischen Vergleich einen kritischen Blick auf die Gefahren, die Quartiere mit sich bringen können. In vielen Großstädten weltweit ist soziale Segregation ein weit verbreitetes Phänomen, das selbst in sorgfältig geplanten Quartieren auftreten kann. Die Schwierigkeit bei der Schaffung einer integrativen Umgebung verdeutlicht, dass die Vielfalt allein nicht ausreicht, um soziale Integration zu gewährleisten. Trotz der Vielfalt der Nutzungen und der Absicht, eine inklusive Gemeinschaft zu fördern, könnten bestimmte Faktoren zur Entstehung getrennter sozialer Gruppen beitragen. Ein entscheidender Faktor ist die Verknappung des Bestands an sozialem Wohnungsbau . Dies führt zu einem sehr geringen Handlungsspielraum der Kommunen bei der Vergabe von Wohnraum an einkommensschwache Haushalte.
Die zunehmende Knappheit an preisgünstigem Wohnraum führt dazu, dass einkommensschwache Haushalte oft nur noch in weniger attraktiven Wohngegenden unterkommen können, die möglicherweise bereits von anderen einkommensschwachen Haushalten bewohnt werden. Dies verstärkt die soziale Segregation, da sich einkommensschwache Haushalte zunehmend in bestimmten Wohngebieten konzentrieren. Die Stigmatisierung sozial segregierter Gebiete trägt ebenfalls zur Entstehung getrennter sozialer Gruppen bei. In vielen Fällen werden einkommensschwache Stadtviertel negativ wahrgenommen und mit Problemen wie Kriminalität oder sozialen Herausforderungen in Verbindung gebracht. Diese negative Wahrnehmung kann dazu führen, dass Menschen mit höherem Einkommen diese Gebiete meiden, was die soziale Segregation weiter verstärkt.
In Wohngebieten wie den Kellogg-Höfen könnte es aufgrund von Wohnkosten oder Lebensstilpräferenzen zu einer natürlichen Segregation führen, da nur bestimmte Einkommensgruppen durch das Angebot angesprochen werden. Die Vielfalt der Wohnformen, die eigentlich verschiedene Bewohnergruppen anziehen sollte, könnte in der Realität trotz aller Beteuerungen zu einer sozialen Trennung führen. Auch im Stephanitor-Quartier, das Freiflächen und verschiedene Arten von Wohn- und Bürogebäuden umfasst, könnten bestimmte soziale Gruppen aufgrund von Interessen, Hintergrund oder beruflicher Zugehörigkeit dazu neigen, sich in getrennten sozialen Kreisen zu bewegen. Insbesondere in den Visualisierungen der Wohnungen wird diese Problematik deutlich. Die Darstellungen präsentieren einzigartige Dachterrassen und luxuriöse Wohnräume, die verdeutlichen, dass nicht jeder sich solch eine Wohnung leisten kann (Abb. 5 und 6).
Für die Mehrheit der Bevölkerung bleibt das Wohnen in derart luxuriösen Wohnungen ein unerreichbarer Traum, wodurch sich wiederum nur Menschen einer bestimmten sozioökonomischen Klasse in diesen Wohnanlagen ansiedeln. Diese selektive Zusammensetzung der Bewohnenden spiegelt sich auch in der Art der entstehenden Gemeinschaft wider. Es besteht somit die Gefahr, dass eine homogene Gruppe von Personen bestimmte Vorzüge genießt und dies zu einer Betonung und Feier der Privilegien innerhalb dieser Gemeinschaft führt, anstatt echte Vielfalt und soziale Integration zu fördern.
Gentrifizierung und steigende Lebenshaltungskosten: Aufwertung könnte zu steigenden Kosten und sozialer Ungleichheit führen.
Die Herausforderung der Gentrifizierung und steigenden Lebenshaltungskosten ist eine bedeutende Überlegung, besonders im Kontext der geplanten Aufwertung und den damit verbundenen Veränderungen. In diesem Zusammenhang könnten verschiedene Faktoren zu einer Verschärfung der sozialen Ungleichheit beitragen.
Die Visualisierung der Kellogg-Höfe (Abb. 8), die eine Kombination von Wohnungen, Atelierterrassen und Gastronomie bieten wird, zeigt bereits belebte Orte mit einer Vielzahl von Menschen, die an verschiedenen Aktivitäten teilnehmen. Die Straßenecke als Ort des geselligen Miteinanders, des spontanen Beisammenseins und des zwanglosen Verweilens – das Phänomen des „Cornerns“ hat in städtischen Gebieten eine lange Geschichte, in Hamburgs Schanzenviertel beispielsweise wird diese urbane Praxis besonders deutlich. Doch dieses scheinbar lockere und unbeschwerte Miteinander steht nicht losgelöst von den komplexen Entwicklungen, die sich in modernen Stadtvierteln abzeichnen und verdeutlicht, wie sich das Cornern und die Herausforderungen der Gentrifizierung miteinander verweben. Das Cornern, als informelle Raumaneignung junger Menschen, erfuhr seine theoretische Grundlage durch den Soziologen William Foote Whyte in den 1930er Jahren. Doch diese gesellige Praxis steht heute im Spannungsfeld urbaner Veränderungen. Dieses lebendige Bild soll dazu beitragen, eine attraktive Atmosphäre zu schaffen und sowohl Bewohnende als auch Besuchende anzuziehen. Allerdings besteht die Gefahr, dass diese Art von Visualisierung die Gentrifizierung fördern könnte. Durch die Darstellung einer belebten und ansprechenden Umgebung könnten potenzielle Investoren und wohlhabendere Personen angezogen werden, was zu steigenden Immobilienpreisen und einer, der Entwicklung quasi „vorgreifenden“ Verdrängung sozio-ökonomisch weniger potenter Bewohnerinnen und Bewohner führen könnte.
Visualisierung, wie die beispielhaft in diesem Beitrag besprochenen, könnte somit als Instrument dienen, um eine bestimmte soziale und ökonomische Gruppe anzusprechen und die räumliche Segregation zu verstärken, anstatt eine inklusive und diverse Gemeinschaft zu fördern. Dies wiederum könnte dazu führen, dass einkommensschwächere Bevölkerungsgruppen möglicherweise aus dem Gebiet verdrängt werden, da sie die steigenden Lebenshaltungskosten nicht tragen können. Wenn nicht ausreichende Maßnahmen zur Schaffung von bezahlbarem Wohnraum ergriffen werden, könnte dies zu einer Verdrängung der gering verdienenden Bewohnerinnen und Bewohner führen.
Mögliche Lösungsansätze könnten die Implementierung von Mechanismen zur Sicherung von bezahlbarem Wohnraum, die Förderung von sozialen Mietwohnprojekten oder die Schaffung von gemischt genutzten Gebieten sein, um eine soziale Durchmischung zu fördern. Es lässt sich bislang also nur hoffen, dass auch in der Überseeinsel eine sozio-ökonomische Durchmischung gewährt wird, wie sie die Entwickler auf der Projekt-Webseite bekräftigen: „Geförderter Wohnungsbau steht gleichberechtigt neben freifinanzierten Wohnungen, hauptsächlich für Studierende und Senior:innen.“