Großsiedlungen sind Zukunftsquartiere (Ergebnis des Workshops: Bremer Thesen)

Dr. Friedemann Kunst Landesgruppe Berlin/ Brandenburg

DASL Jahrestagung 2024 in Bremen, Workshop am 21.09.2024 im Bremer Quartier Kattenturm

Beitrag der Landesgruppe Berlin/ Brandenburg
Thema: „Alltagstauglichkeit von Großsiedlungsquartieren“

Ergebnis der Diskussion: Bremer Thesen „Großsiedlungen sind Zukunftsquartiere“

 

Zu den Großsiedlungen des 20. Jhdt. zählen Siedlungen der 1920er bis 1980er Jahre. Es geht um rd. 4 Millionen Wohnungen, also etwa 20% des Wohnungsbestandes, in dem ca. 8 Millionen Menschen wohnen.

Die Landesgruppe Berlin-Brandenburg der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung hat sich bei ihrer Jahrestagung 2024 in Bremen mit der „Alltagstauglichkeit von Großsiedlungen“ befasst. Im Rahmen eines Workshops wurde folgende Überein-stimmung erzielt:

Großsiedlungen sind keine „Dinosaurier“, sondern Zukunftsquartiere, und zwar in zweierlei Hinsicht:

  • zum einen aufgrund ihrer städtebaulichen Struktur, die besser als in anderen Quartieren an die Anforderungen des Klimawandels, der Digitalisierung und der Mobilität anpassbar sind;
  • zum anderen, weil hier ein großer Teil der nächsten Generation heranwächst. An-gesichts der sozialen Herausforderungen aufgrund des hohen Anteils von Bewohnern mit Migrationshintergrund, von Familien mit Kindern und von Haushalten mit niedrigen Einkommen sind für einen fairen Lastenausgleich deutlich stärkere politische Anstrengungen erforderlich. Großsiedlungen sind das Lernfeld für die Zukunft, ob und wie Integration gelingt.

Zum Umgang mit den Großsiedlungen im Einzelnen wurden die folgenden Thesen er-arbeitet:

  1. „Alltagstauglichkeit“ lässt sich anhand objektiver Kriterien (Qualität und Erreich-barkeit der Angebote zur Daseinsvorsorge, aktive Nachbarschaft, hohe Freiraum-qualität…) beschreiben, enthält aber auch subjektive Aspekte, die durch die konkrete Situation und Lebenslage (alleinerziehend, arbeitslos, geflüchtet…) bestimmt werden. Es kommt darauf an, möglichst viele Ansprüche zu sehen und zu berücksichtigen.
  2. Ein lebenswertes Quartier muss auch „sonntagstauglich“ sein. Das soll heißen, dass sich die Bewohnerinnen und Bewohner dort heimisch fühlen können, aber auch, dass das Quartier für die Gesamtstadt einen Wert darstellt. Dazu braucht je-des Quartier ein eigenes Profil, vermittelt über eine Besonderheit seiner öffentlichen Räume, der städtebaulich-architektonischen Gestaltung oder einer Infrastruktureinrichtung.
  3. Die bestehenden Großsiedlungen sind nach gesellschaftlichen und städtebaulichen Leitbildern gebaut, die heute auf veränderte gesellschaftliche Verhältnisse treffen. Veränderungen der Rahmenbedingungen (Demografie, Migration, Klimawandel, Technologie/Digitalisierung …) und Ziele, die für die „Alltagstauglichkeit“ relevant sind, werden sich in schwer voraussehbarer Form fortsetzen. Beim Umbau muss eine möglichst große Anpassungsfähigkeit an sich wandelnde Verhältnisse angestrebt werden.
  4. Die städtebaulichen und baustrukturellen Merkmale von Großsiedlungen (kompakter Städtebau, serielle Bauten, großzügige, teils umnutzungsfähige Freiräume und Gebäude, zentral angeordnete Gemeinbedarfseinrichtungen) bieten über-wiegend gute Voraussetzungen für eine Anpassung an die aktuellen und erwartbaren Rahmenbedingungen und Ziele. Die „Dinosaurier“ von heute haben das Potential als Zukunftsquartiere für morgen.
  5. Dem öffentlichen Raum kommt eine zentrale Funktion für die Zukunft der Großsiedlungen zu. Sein Grundgerüst, seine „konzeptionelle Logik“ sollten bei jedem Weiterbau berücksichtigt werden. Der öffentliche Raum muss Angebote für die unterschiedlichen Nutzergruppen und gute Bedingungen für den Fuß- und Radverkehr bieten. Von großer Bedeutung für die Weiterentwicklung sind – neben hoher Aufenthaltsqualität – die Sicherheit, der Schutz vor Hitze und die Speicherung/Versickerung von Regenwasser.
  6. Großsiedlungen werden überwiegend Wohnquartiere bleiben. Die Flächenreserven für funktionale Ergänzungen zur nutzungsgemischten Stadt sind in der Regel begrenzt und werden prioritär zur Ergänzung von Einrichtungen des Gemeinbedarfes, und zur Differenzierung des Wohnungsangebotes benötigt. Neue Formen des Arbeitens, wie Co-Working, sind auch in Großsiedlungen möglich. Sie können den Einzelhandel und die Gastronomie stützen und den öffentlichen Raum beleben. Da in Großsiedlungen in der Regel nur wenige Arbeitsplätze vorhanden sind, hat die gute Erreichbarkeit mit dem ÖPNV und/oder Fahrrad eine große Be-deutung.
  7. Ergänzender Wohnungsbau sollte genutzt werden, um den Wohnungsmix zu er-weitern. Barrierearme, seniorengerechte Wohnungen oder Sonderwohnformen wie Demenz-Wohngemeinschaften verbessern die Alltagstauglichkeit bis ins hohe Alter. Umzüge innerhalb der Siedlungen bieten die Möglichkeit, vorhandenen Wohnraum besser zu nutzen.
  8. Mehr als der Städtebau sind die sozialen Probleme die große Herausforderung. Die Nachbarschaften in den Großsiedlungen erbringen große Integrationsleistungen, können aber bei der aktuellen Lage am Wohnungsmarkt und der zunehmenden sozialen und ethnischen Segregation schnell zum Austragungsort von Konflikten werden. Zur Aufrechterhaltung der Integrationsfähigkeit und des sozialen Friedens ist eine soziale Mischung der Bewohnerschaft auf Quartiersebene unerlässlich. Es sind wirksamere Instrumente zur Steuerung der Wohnungsbelegung erforderlich, die diesem Ziel entsprechen.
  9. Ein großer Teil der nächsten Generation wächst in den Großsiedlungen heran. Das Angebot an Kindereinrichtungen, Schulen, an sozialer Betreuung, an Gelegenheiten für Freizeit und Kultur muss in den Großsiedlungen, die die größten Integrationsleistungen im Vergleich zu anderen Stadtstrukturtypen schultern, am besten sein. Eine gelingende Integration von Migranten und Menschen mit Migrationshintergrund ist eine wesentliche Voraussetzung für die Zukunft von Groß-siedlungen.
  10. Formate der Öffentlichkeitsbeteiligungen müssen geeignet sein, auch den „stillen“ Teil der Bewohnerschaft anzusprechen. Die Erfahrung von Mit-Wirkung und Selbstwirksamkeit ist eine Voraussetzung für die Akzeptanz von Veränderungen und die Aneignung von räumlichen Strukturen.
  11. Die „kritische Infrastruktur“ (Elektrizität, Wärme, Wasser, digitale Infrastruktur) in den Großsiedlungen bedarf weit stärkerer Betrachtung, da sie durch extreme Wetterlagen, Sabotage (im Extremfall auch kriegsbedingte Ereignisse) leichter verwundbar/weniger resilient ist als die Infrastruktur in kleinteiligeren, heterogeneren Siedlungsstrukturen.
  12. Zur Herstellung und dauerhaften Sicherung der „Alltagstauglichkeit“ in den Quartieren von Großsiedlungen ist eine höhere und dauerhafte politische Aufmerksamkeit notwendig. Konsequenz müsste eine bessere finanzielle Ausstattung der Gemeinden zur Bewältigung dieser Daueraufgabe sowie Änderungen in der Förderpolitik des Bundes und der Länder sein (ressortübergreifende Abstimmung und Bündelung, längerfristige Laufzeiten der Förderprogramme). Beim Bau geförderter Wohnungen ist ein stärkerer Beitrag stabiler Quartiere außerhalb von Großsiedlungen erforderlich.

Die DASL -Landesgruppe Berlin-Brandenburg schlägt vor, den Großsiedlungen des 20. Jahrhunderts auf dem im Mai stattfindenden Bundeskongress „Nationale Stadtentwicklungspolitik“ mit seinem Thema „Zukunftsquartiere“ einen besonderen Stellenwert einzuräumen.

Bremen/Berlin/Potsdam, den 1.Oktober 2024

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