QUARTIERALARM! Medialer Hype oder Schlüssel für urbane Transformation?

Stephan Reiß-Schmidt, Landesgruppe Bayern

In der Stadtentwicklungsszene gibt’s Quartieralarm. Wer nicht rechtzeitig laut „Nachbarschaft“ ruft und mit seinen Plänen im Kiez (oder wahlweise im Veedel oder im Grätzel) erscheint, muss zurück auf Los.
Mal wieder wurde offenbar eine (nein, die) Zauberformel für eine bessere Stadt gefunden. Wer schon etwas länger dabei ist, kennt das Spiel und bleibt gelassen. Nach den von Globalisierung, Marktgläubigkeit und Wachstumseuphorie beflügelten Heilsbringern „Metropolregion“ und „Europäische Stadt“ richten sich in der letzten Dekade viele Hoffnungen auf die übersichtliche Alltagswelt der Quartiere. Eine plausible Reaktion auf die multiplen Krisen von sozialem Zusammenhalt, Wohnen, Klima und Biodiversität. Stellt der Hype ums Quartier strategisches Denken ruhig? Oder eröffnet der Zoom in die Alltagswelt vor Ort neue Perspektiven einer sozial- und klimagerechten Transformation, wie sie die Berliner Erklärung der DASL (https://dasl.de/wp-content/uploads/2022/10/220812-dl_Berliner-Erklaerung-210×297-LQ.pdf) skizziert?

Komplexe Aufgaben und wachsende Unsicherheit fördern (nicht nur in der Stadtplanung) die Sehnsucht nach Übersichtlichkeit. Unscharfe, aber positiv konnotierte Begriffe und mantraartige Formeln simulieren Lösungskompetenz – siehe Innenentwicklung oder Produktive Stadt. Jetzt also Quartier? Es übersetzt den Klassiker Nachbarschaft und das technokratische Wohnumfeld in eine
zeitgemäße Marketingsprache und strahlt die Hoffnung aus, dass alles gut werden könnte. „‘Nachbarschaft‘ ist ein Wort, das den Klang einer Liebesbotschaft angenommen hat“ schrieb Jane Jacobs 1961 über seine „sentimentale Bedeutung“. „Er verleitet dazu, das Großstadtleben zu Imitationen kleinstädtischen oder vorstädtischen Lebens zu verzerren“ (Jacobs 1965:, 78).

Risiken und Nebenwirkungen
Als vieldeutige Chiffre für sozialen Zusammenhalt, demokratische Teilhabe, kleine Kreisläufe und kurze Wege („15-Minuten-Stadt“) dient das sozialräumliche Konstrukt Quartier als weiße Salbe für die Zumutungen einer immer mehr finanzmarktgetriebenen, sozial polarisierenden und baukulturell
armseligen Stadtentwicklung. Dahinter verbirgt sich nicht selten das pure Gegenteil, nämlich eine Beschleunigung der Kommodifizierung von Immobilien („Quartier als Assetklasse“ – https://www.immobilien-aktuell-magazin.de/topics/bedeutung-der-assetklasse-quartier-wird-zunehmen/)
und Gentrifizierung, also die Verdrängung weniger zahlungskräftiger Haushalte aus attraktiven Stadtvierteln. Kulturell kann Nachbarschaft auch als Schutzraum vor den Zumutungen urbaner Diversität und Unsicherheit gelesen werden, eine (im Extremfall auch buchstäbliche) Gated Community. Ein kursorischer Blick in die Geschichte zeigt die Ambivalenz zwischen rigider Kontrolle und demokratischer Teilhabe. Der zu Fuß erlebbare Nahbereich als Bollwerk gegen den „Moloch
Großstadt“ (https://www.boell.de/de/2011/03/11/der-moloch-stadt-erfindet-sich-neu) ist fast so alt wie die Disziplin des Städtebaus, siehe etwa Ebenezer Howards „Garden Cities of To-morrow“ (1898). Die „Neighbourhood Unit“ (https://en.wikipedia.org/wiki/Neighbourhood_unit) als Stadtbaustein wurde erstmals 1923 auf einem Kongress der American Sociological Society vorgestellt und 1929 von Clarence A. Perry im „Regional Plan for New York and Environs“ aufgegriffen. (Perry 1929/1998) Innerhalb eines von Hauptverkehrsstraßen umgebenen, von Lärm und Gefahren des Autoverkehrs geschützten Gebietes versprach sie ein gemeinschaftsorientiertes Leben für jeweils 5.000 bis 9.000 Einwohner*innen.

Die im Zentrum angeordnete, mit einem Fußweg von maximal einer halben Meile erreichbare Schule sollte zugleich Treffpunkt und Veranstaltungsort sein, mindestens zehn Prozent des Gebietes waren für Parks und öffentliche Plätze reserviert. Seither wurde Nachbarschaft als städtebauliches Prinzip von ganz unterschiedlichen Interessen und Ideologien vereinnahmt. Das weitgehend noch vor 1945 verfasste und 1957 publizierten Standardwerk des Wiederaufbaus „Die gegliederte und aufgelockerte Stadt“ von Johannes Göderitz, Roland Rainer und Hubert Hoffmann propagiert sie als kleinste Einheit einer funktional und sozial strikt separierten Stadt (vgl. Lammert 1987: 363-366).

Quartiere: Schlüssel zur urbanen Transformation?
Zukunftsfähige und verantwortliche Raumentwicklung muss die planetaren Grenzen von CO2-Emission und Bodenverbrauch respektieren. Das ist nur mit einer Strategie der Suffizienz zu erreichen, d.h. mit einem nicht nur effizienteren, sondern vor allem reduzierten Ressourcenverbrauch. Zivilgesellschaftliche, politische und planerische Interventionen auf Quartiersebene können dazu
beitragen, wenn sie in systemische Zusammenhänge und übergreifende, gesamtstädtische Strategien eingebettet sind. Auch in der „Neuen Leipzig Charta“ (https://www.bmwsb.bund.de/SharedDocs/downloads/Webs/BMWSB/DE/veroeffentlichungen/wohnen/neue-leipzig-charta-2020.html;jsessionid=E25D28957467F4773A27E094BAA3696D.live862) bekommt das Quartier gegenüber Gesamtstadt und Region ein besonderes Gewicht als Handlungsebene urbaner Transformation. Voraussetzungen für eine Nutzung dieses Potentials sind vor allem:

§ Einbettung in integrierte Strategien für die Gesamtstadt
Ein Beispiel dafür ist das in München entwickelte und erfolgreich angewandte Konzept der „Handlungsräume“ (https://stadt.muenchen.de/infos/handlungsraeume-muenchen.html)
als teilräumliche Konkretisierung und Umsetzungsebene des integrierten Stadtentwicklungskonzeptes PERSPEKTIVE MÜNCHEN. Für mehr bezahlbarem Wohnraum, bedarfsgerechte soziale und kulturelle Infrastruktur, klimagerechte Wärmeversorgung, vernetzte Grünflächen und andere Klimaanpassungsmaßnahmen sowie für nachhaltige Mobilität und nutzbare öffentliche Räume werden
quartiersbezogene Handlungsprogramme erarbeitet. Ein offener Planungsprozess, ein Verfügungsfonds und ein begleitendes Handlungsraummanagement sichern dabei Teilhabe und Koproduktion.

§ Einbettung in eine strategische Bodenpolitik
Kommunale Bodenpolitik (https://difu.de/publikationen/2023/praxis-der-kommunalen-baulandmobilisierung-und-bodenpolitik) sichert eine transformatorische Quartiersentwicklung gegen Bodenspekulation z.B. durch Bodenvorratswirtschaft (revolvierende Bodenfonds) und systematische
Nutzung des Vorkaufsrechts. Die Instrumente des besonderen Städtebaurechts wie soziale Erhaltungssatzungen, städtebaulichen Sanierungs- oder Entwicklungsmaßnahmen, aber auch kooperative Baulandmodelle und städtebauliche Verträge bringen Gemeinwohlbindungen gegenüber privaten Eigentümer*innen zur Geltung.

§ Verstetigung von Experimenten und Reallaboren
Interventionen auf Quartiersebene wirken nur dann nachhaltig transformativ, wenn Experimente und Reallabore skaliert und verstetigt werden. Das gilt für die dauerhafte Gemeinwohlbindung von Wohnungsbeständen, Infrastrukturen und öffentlichen Räumen ebenso wie für eine Verstetigung der Teilhabe vielfältiger Stadtmacher*innen durch ein ermöglichendes Quartiersmanagement. Bewährt hat
sich dafür u.a. die Weitergabe kommunaler Grundstücke an gemeinwohlorientierte Trägerorganisationen wie gemeinnützige Stiftungen oder Genossenschaften im Erbbaurecht, vorzugsweise mit Konzeptausschreibung. Ein Beispiel für die Verstetigung des Quartiersmanagements ist die „Genossenschaft für Quartiersorganisation“ (https://www.prinzeugenpark.de/quartierszentrale/ueber-uns.html) im Münchner Prinz-Eugen-Park. In Zürich sind die 17 von einer gemeinnützigen
Stiftung getragenen „Gemeinschaftszentren“ (https://gz-zh.ch/) seit 70 Jahren die Ankerpunkte
für aktive Teilhabe im Quartier. Sie werden von der Stadt finanziert, von den lokalen Akteuren mit verwaltet und mit einer großen Bandbreite offener soziokultureller Angebote bespielt. Um die Potenziale einer Strategie der Quartiersentwicklung auszuschöpfen brauchen Kommunen und zivilgesellschaftliche Akteure nicht zuletzt mehr finanziellen und rechtlichen Handlungsspielraum in der Boden-, Wohnungs- und Klimapolitik, wie sie etwa vom BÜNDNIS BODENWENDE (https://dasl.de/ausschuss-bodenpolitik/) formuliert wurden. Damit er nicht als kurzlebiger, falscher Alarm verpufft gilt
es, den Quartieralarm als Anstoß für Integration, Verstetigung und Vergrößerung der Handlungsspielräume zu nutzen.


Quellen:

DASL – Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung e.V. (Hg.) (2022): Unsere Städte und Regionen: Was sich ändern muss – Wie wir uns ändern müssen. Berliner Erklärung der DASL. Berlin.

Göderitz, Johannes et al. (1957): Die gegliederte und aufgelockerte Stadt. In: Deutsche Akademie für Städtebau und Landesplanung (Hg.): Archiv für Städtebau und Landesplanung Bd. 4. Tübingen.

Jacobs, Jane (1965): Tod und Leben großer amerikanischer Städte (engl. 1961). Bauwelt Fundamente Bd. 4, Gütersloh.

Lammert, Peter (1987): Die gegliederte und aufgelockerte Stadt vor und nach 1945. Eine Skizze zur Planungsgeschichte. In: Die Alte Stadt, 14. Jg. Band 4/1987. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz. S. 352-366.

Perry, Clarence (1929/1998): The Neighbourhood Unit (1929) Reprinted Routledge/Thoemmes, London. S. 25-44.

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