Was lernen wir aus dem internationalen Vergleich der Strategien für die Entwicklung von Großsiedlungen?

Dr. Bernd Hunger, Stadtplaner/Stadtsoziologe, Landesgruppe Berlin-Brandenburg

 

Im Vergleich:
Dänemark – Schweden – Niederlande – Schweiz – Frankreich – Deutschland

 


I. Sozialer Zusammenhalt – Ausgangslage und Konzepte


1. Besondere Integrationsleistungen erfordern besondere Unterstützung

Alle beteiligten Länder widmen den Großsiedlungen besondere politische Aufmerksamkeit. Warum?

Die Großsiedlungen leisten einen überproportionalen Beitrag zur Wohnraumversorgung besonders bedürftiger Haushalte. Sie schultern Integrationsleistungen für die Stadt als Ganzes und entlasten damit andere Quartiere. Erforderlich ist eine dieser Bedeutung adäquate politische Aufmerksamkeit und Förderung.

In den letzten Jahren sind in allen Ländern vielfältige Maßnahmen zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts in den Großsiedlungen ergriffen worden. Dennoch schreitet in allen am Workshop beteiligten Ländern die soziale und ethnische Segregation zwischen den verschiedenen Stadtquartieren voran und betrifft am augenscheinlichsten die Großsiedlungen. Sie ist zum einen die Folge von Zuwanderung und sozialer Polarisierung. Sie ist zum anderen aber auch das Ergebnis einer Wohnungspolitik, die auf die sozialen Konsequenzen einer rein sozialpolitisch gesteuerten Verteilung von Wohnungen ohne räumlichen Quartiersbezug jahrzehntelang nicht geachtet hat.

Die Schnelligkeit der Veränderung in den sozialen Strukturen zeigt, dass nicht nur benachteiligte Quartiere weiterhin Unterstützung brauchen, sondern auch die Nachbarschaften in stabilen Siedlungen mit präventiven Maßnahmen gestützt werden müssen.


2. Soziale Mischung als übereinstimmendes gemeinsames Ziel

Alle Länderbeiträge stimmten darin überein, dass die Entstehung von Parallelgesellschaften den Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdet. Der Integration der verschiedenen sozialen Gruppen und Ethnien kommt deshalb eine zentrale Bedeutung zu. Nahräumliches Zusammenleben wird als notwendig erachtet, damit im nahräumlichen Zusammenleben Integrationsmöglichkeiten entstehen können.

Die Wohnungspolitiken der am Workshop beteiligten Länder zielen programmatisch auf soziale Mischung. Vermieden wird eine Verengung des staatlichen Versorgungsauftrags auf benachteiligte Haushalte. „Living for all“ (Schweden) oder „housing for all“ (Dänemark) sind Synonyme für “breite Schichten“ als Zielgruppe der Wohnungspolitik in Deutschland. 


3. Besondere Bedeutung der Belegungspolitik

Angestrebt werden Quartiere, in denen besonders bedürftige Haushalte mit breiten Schichten der Bevölkerung nachbarschaftlich zusammenleben. Der Belegungspolitik wird daher ein hoher Stellenwert eingeräumt. Angestrebt wird eine sozial ausgewogene Balance zwischen der Belastbarkeit der vorhandenen Nachbarschaften, der Versorgung besonders bedürftiger Haushalte und der Versorgung breiter Schichten der Bevölkerung mit Wohnraum. Zur Erreichung dieser Balance verfolgen die beteiligten Länder verschiedene Wege:

  • Belegungs-Obergrenzen für benachteiligte Quartiere, die zur Vermeidung von Parallelgesellschaften den Zuzug nach definierten Kriterien dämpfen: (Dänemark)
  • Spielräume bei Belegungsquoten für kommunale Wohnungsunternehmen, um überforderte Nachbarschaften zu vermeiden (Niederlande)
  • Erhöhung des Anteils von bezahlbarem Wohnraum in bessergestellten Quartieren bei paralleler Dämpfung dieses Anteils in benachteiligten Quartieren (Niederlande, Frankreich).
  • Erhöhung des Anteils an Eigentumswohnungen durch partiellen Abriss und Ersatz des Bestandes.

Das Ziel der sozialen Mischung nahm in den Länderbeiträgen stärker als in Deutschland den potenziellen Beitrag anderer Quartiere zur Entlastung der Großsiedlungen in den Blick.

Jede Großsiedlung ist anders. Erfolgversprechende Lösungen brauchen flexible Rahmenbedingungen, die den unterschiedlichen Bedarfen der jeweiligen Großsiedlung entsprechen. Starre Anforderungen und Vorgaben sind kontraproduktiv.


4. Anreize zur sozialen Mischung für alle Marktteilnehmer

In den Großsiedlungen agieren viele Vermieter: kommunale Wohnungsbaugesellschaften, Wohnungsgenossenschaften, private Wohnungsunternehmen und Einzeleigentümer.

Zur Unterstützung der sozialen Mischung werden in den beteiligten Ländern Konzepte realisiert, die geförderten und frei finanzierten Wohnungsbau kleinräumig mischen. Finanzielle Anreize und rechtliche Regelungen sollen die vor Ort agierenden Wohnungsunternehmen in ihrer ganzen Breite motivieren, sich in stärkerem Maße an der sozialen Wohnraumversorgung zu beteiligen, u.a.

  • durch die kostengünstige Bereitstellung von Grundstücken nach Wettbewerben mit sozialen Vorgaben und wirtschaftlich tragbaren Rahmenbedingungen,
  • durch Zuschüsse für Neubauvorhaben mit Belegungsbindungen.


5. Im Mittelpunkt: Bildungsförderung und soziale Infrastruktur

In den großen Quartieren wächst ein großer Teil der zukünftigen Generation heran. In den Schulen und im Wohnalltag entscheidet sich, ob Wertevermittlung und Bildung auf einem Niveau gelingen, die den Zusammenhalt, die Produktivität und damit den Lebensstandard der Gesellschaft auch zukünftig sichern. Der Qualität der Kindereinrichtungen und Schulen kommt deshalb zentrale Bedeutung zu.

Das Angebot an Freizeitmöglichkeiten, kulturellen Angeboten und sozialer Betreuung muss im Quartiersvergleich in jenen Quartieren, die die größten Integrationsleistungen schultern, am besten sein. Erreicht und berücksichtigt werden muss auch die Generation der Erstbezieher, für die das Quartier in besonderem Maße Heimat ist.

Etabliert haben sich in allen Ländern, ähnlich zum Quartiersmanagement in Deutschland, unterschiedliche Formen der Gemeinwesenarbeit, die zum einen auf Ordnung, Sicherheit und Sauberkeit achten und zum anderen Initiativen der Nachbarschaften unterstützen bzw. initiieren. Das Wohnumfeld und der öffentliche Freiraum spielt dabei eine besondere Rolle, um die Wohnqualität ebenso zu verbessern wie das Image des jeweiligen Quartiers. 


6. Kommunale Wohnungsunternehmen – ökonomisch handlungsfähig in sozialer Verantwortung

Die Einkommensverhältnisse großer Teile der Bewohnerschaft in den Großsiedlungen erlauben den Kommunalen Wohnungsunternehmen nur geringe Spielräume für Investitionen im Bestand, um keine Verdrängungseffekte auszulösen.

Absehbar ist, dass vor allem die kommunalen Wohnungsunternehmen bei unter-halb der Kosten liegenden Mietpreisen und gleichzeitig notwendigen Investitionen zu Marktpreisen an die Grenzen ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit stoßen.

In allen Länderbeiträgen wurden daher Wege beschrieben, wie kommunale Wohnungsunternehmen als juristisch unabhängige Institutionen ihrem sozialen Auftrag nachkommen und dennoch wirtschaftlich erfolgreich handeln können. In Schweden geschieht das über konsequente Subjektförderung – die Mieten wer-den jährlich nach Inflationsrate, Einkommens- und Baukostenentwicklung festgelegt und die Haushalte erhalten je nach Einkommen gestaffelte Zuschüsse. In den anderen Ländern wird eine Mischung von Subjekt- und Objektförderung praktiziert, wobei die kommunalen Wohnungsunternehmen durch nach Quoten geregelte Anteile höherpreisiger Wohnungen Möglichkeiten der Quersubventionierung haben.

In den Vorträgen wurde deutlich, dass die kommunalen Wohnungsunternehmen und Genossenschaften ihr soziales Engagement bei der Unterstützung der Nachbarschaften in den letzten Jahren deutlich ausgeweitet haben und als wesentliche Grundlage für ihren wirtschaftlichen Ertrag und die Wertsteigerung ihrer Bestände sehen.


7. Integration und soziale Mischung – ein mühevoller langer Weg

Alle Länderberichte belegen die Anstrengungen, um auf verschiedenen Wegen die Integration und den Zusammenhalt der Nachbarschaften in den Großsiedlungen zu unterstützen, aber die Erfolge sind gemessen an den Erwartungen bescheiden. Was sind die Gründe?

Zum einen ist der Druck auf die Kommunen groß, vor allem die bedürftigsten Haushalte zu versorgen – und der dafür geeignete bezahlbare und beeinflussbare Wohnraum befindet sich nun mal überproportional in den Großsiedlungen. Zum zweiten bringt die anhaltend hohe Zuwanderung die Integrationsfähigkeit der lokalen Gemeinwesen an die Grenzen der Belastbarkeit. Integration braucht Zeit und Ressourcen, und an beidem fehlt es. Unruhe und Sorge der lokalen Bevölkerung über die Gefahr der Überlastung der Sozialsysteme wachsen.

Dennoch: wie wäre die Situation ohne das aktive Gegensteuern der Kommunen und gemeinwohlorientierten Wohnungsunternehmen? Die Alternative wäre der Zerfall der Städte in etablierte und abgehängte Quartiere mit jeweils eigenen Kulturen und Ressentiments – das Gegenteil einer integrierten Stadtgesellschaft.


II. Städtebauliche Konzepte


1. Potenzial der Großsiedlungen als Vorreiter beim Klimaschutz

Wurden in den 1990er Jahre die Großsiedlungen als „Dinosaurier“ eines überkommenen Wohnungsbaus belächelt und diskreditiert, so hat sich der Blick vor dem Hintergrund des Klimawandels verändert:
Großsiedlungen sind durch die Verbindung von kompaktem Wohnen, großzügigem Freiraum und zentraler Energieversorgung potenzielle Vorreiter beim Klimaschutz. Mit ihrem in der Regel guten öffentlichen Verkehrsanschluss, ihrer Barrierefreiheit in weiten Bereichen und ihren Flächenreserven bieten sie zudem gute Voraussetzungen für die Erprobung neuer Formen der Mobilität.

Absehbar sind Vorteile beim Betrieb und der Bewirtschaftung, da sich die technischen Systeme in den Quartieren in vielen Fällen kostengünstiger an die Anforderungen der Klimaneutralität und Ressourceneinsparung anpassen lassen als in anderen städtebaulichen Quartierstypen.

Kommen diese Kostenersparnisse durch technische Modernisierung zum Tragen, so wird das die Attraktivität des Wohnens in einer Großsiedlung für die Haushalte schon aus rein wirtschaftlicher Sicht erhöhen. Hinzu kommt der Imagegewinn, in einem Quartier zu wohnen, das in besonderer Weise zur Ressourcenschonung beiträgt.

2. Wertschätzung des Bestandes

Die Einschätzung der städtebaulichen Struktur der Großsiedlungen der 1960er bis 1980er Jahre hat sich in den am Workshop beteiligten Ländern gewandelt. Erfolgten in Frankreich, den Niederlanden und Dänemark teilweise erhebliche Abrisse, so wird heute der Bestand stärker als zukunftsfähig angesehen. Eine teilweise Transformation der Quartiere durch Abriss und Neubau – meist als Wohneigentum – erfolgt dort, wo durch attraktive neue Wohnformen einkommensstärkere Haushalte im Interesse der sozialen Mischung gewonnen werden sollen. 

3. Möglichkeiten und Grenzen des Wohnungsbaus in Großsiedlungen

Innerhalb der Großsiedlungen findet aufgrund der Präsenz kommunaler Wohnungsunternehmen und kommunal verfügbarer Flächen in einigen Ländern ein erheblicher Anteil des sozialen Wohnungsneubaus statt. Dabei wird angestrebt, das Angebot an Wohnformen zu verbreitern und den Anteil der Sozialwohnungen zu verringern (Frankreich, Dänemark, Niederlande).
Diskutiert wurden die Probleme des Bauens im Bestand: Flächenpotenziale für eine stärkere funktionale Mischung vermindern sich, Freiraum geht verloren. Die Sensibilität der Bewohnerschaft gegenüber Verdichtung durch ergänzenden Wohnungsbau im Bestand wächst mit jedem neuen Vorhaben.

Die Balance zwischen dem Wohnen in kompakten Häusern und großzügigem Freiraum ist eine Qualität der Großsiedlungen, die angesichts des Klimawandels an Bedeutung gewonnen hat. Die Corona – Pandemie hat den Blick auf die Bedeutung des gestalterisch ansprechenden und vielfältig nutzbaren Freiraumes zusätzlich geschärft. Absehbar ist deshalb: Das Baupotenzial im Bestand der Großsiedlungen nimmt ab. 

4. Ganzheitliche Planung für mehr funktionelle Vielfalt und Gestaltqualität

In den beteiligten Ländern werden Quartiersentwicklungskonzepte als das geeignete Steuerungsinstrument angesehen, um die sektoralen Einzelthemen wie Frei-raum, Verkehr, Wohnen usw. zusammenzuführen und die Eigentümer wie die Nachbarschaften frühzeitig zu beteiligen.

Den über das Wohnen hinausgehenden Angeboten an wohnungsnahen Dienstleistungen und wohnverträglichem Gewerbe wird dabei besondere Beachtung gewidmet, vor allem in den Erdgeschossen.

Als Schlüssel für Attraktivitätsgewinn gilt eine verbesserte Qualität und Benutzbarkeit des Wohnumfeldes, das gleichzeitig durch neue Formen der Bepflanzung und des Wassermanagements umweltverträglicher gestaltet wird. Dem gleichen Ziel dienen gestalterische Akzente an besonders stark wahrgenommenen Gebäuden und Bereichen im öffentlichen Raum.


III. Fazit: Vom „Dinosaurier“ zum Zukunftsquartier

Den Einschätzungen aus den beteiligten Ländern liegt ein gemeinsamer Duktus zugrunde: die Großsiedlungen haben Zukunft. Sie sind ein unverzichtbarer Be-standteil der sozialen Wohnraumversorgung für einen großen Anteil der Bevölkerung. Aufgrund ihrer strukturellen Besonderheiten und der Möglichkeit des ganzheitlichen Handelns großer Wohnungsunternehmen sind sie besser an die Notwendigkeiten der Klimaneutralität anpassbar als andere Quartiere.

Gleichzeitig sind die sozialen und Integrationsprobleme in den Großsiedlungen infolge hoher Anteile von Haushalten mit niedrigem Einkommen und Migrationshintergrund nicht zu übersehen. Sie werden infolge von Zuwanderung und sozialer Ausdifferenzierung nicht kleiner, können aber durch eine auf sozialen Zusammenhalt und Integration gerichtete Politik gedämpft werden.

Die Großsiedlungen sind ein entscheidendes gesellschaftliches Lernfeld dafür, ob und wie sozialer und kultureller Zusammenhalt in vielfältig zusammengesetzten Nachbarschaften gelingen kann.

In den großen Quartieren der europäischen Städte wächst ein großer Teil der zukünftigen Generation heran. In den Schulen und im Wohnalltag entscheidet sich, ob Wertevermittlung und Bildung auf einem Niveau gelingen, die den Zusammenhalt, die Produktivität und damit den Lebensstandard der Gesellschaft auch zukünftig sichern.

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