Prof. Dr. Herbert Schubert, Büro SOZIAL • RAUM • MANAGEMENT, Hannover – Mitglied der DASL Landesgruppe Niedersachsen/ Bremen
Das Quartier im Fokus der Neuen Leipzig-Charta
Im Dezember 2020 hatten die für Stadtentwicklung zuständigen Ministerinnen und Minister der EU-Mitgliedstaaten die Neue Leipzig-Charta verabschiedet. Im Fokus der Charta steht einerseits die nachhaltige Transformation der Städte, andererseits vor allem aber auch die Stärkung des Gemeinwohls. Stadtplanung und Städtebau sollen durch „qualitativ hochwertige, für alle offene und sichere öffentliche Räume“ sowie „gut ausgebaute Infrastrukturen“ die Städte „lebendig“ und lebenswert machen (vgl. ebd.: Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat 2020, S. 3). Als zentrale räumliche Handlungsebene wird dafür das „Quartier“ als neue städtische Grundeinheit hervorgehoben. Als „sozialräumliche Organisationsform“ (Robert Kaltenbrunner) vermittelt das Quartier zwischen der Stadt und dem privaten Haushalt – es ist der Ort, wo sich soziales Engagement entfalten kann und wo der gesellschaftliche Zusammenhalt hergestellt wird. Damit das gelingen kann, wird in der Neuen Leipzig-Charta ein integrierter Ansatz gefordert, in dem alle fachlich relevanten Belange und Interessen miteinander abgewogen sowie räumlich, sektoral und zeitlich koordiniert werden (vgl. ebd., S. 8).
Allerdings herrscht im Fachdiskurs kein einheitliches Quartiersverständnis vor. Das liegt an der „Fuzzy-Logik“, nach der das Quartier als „unscharf konturierter Mittelpunkt-Ort alltäglicher Lebenswelten“ sozial konstruiert wird und deshalb unterschiedliche räumliche Formate des Wohnumfelds repräsentieren kann (Schnur 2013, S. 31). Die Unschärfe entsteht durch Überlappungen zwischen Grenzräumen, die Bewohnerinnen und Bewohner sowohl dem eigenen als auch einem benachbarten Quartier zurechnen. Dieses Verständnis korrespondiert mit dem relationalen Raumkonzept der „Lebenswelt“, nach dem jeder Mensch – wegen des individuellen Aktions- und Bezugsraumes – ein eigenes Quartier definiere.
Geeigneter als der Lebensweltbezug erscheint deshalb eine Verbindung zum Konzept des „Sozialraums“, der im amerikanischen Original der Humanökologie die beiden Komponenten einer Natural Area und einer Cultural Area integriert (vgl. Riege/Schubert 2016). In dem geografisch abgrenzbaren Gebiet der Natural Area finden soziale Beziehungen und Nutzungen – quasi als zweite Schicht der Cultural Area – statt. In dieser Herangehensweise werden das absolute und das relationale Raumverständnis in eine Balance gebracht. Um den Quartiersbegriff für gemeinwesenorientierte, wohnungswirtschaftliche und städtebauliche Strategien nutzen zu können, wird einerseits das absolute Raumverständnis gebraucht, in dem physische Abgrenzungen einer robusten Stadtstruktur mit guter Erreichbarkeit von Einrichtungen des täglichen Bedarfs, einer Nutzungsmischung mit funktionierender Nahversorgung und der Verknüpfung mit der Gesamtstadt möglich sind. Andererseits hilft das relationale Raumverständnis, an die internen sozialen Prozesse in einem als Quartier abgegrenzten Gebiet anzuschließen. Dazu gehören beispielsweise: die Raumproduktion durch professionelle, aber auch informelle Planungen, die sich daraus ergebenden sozialen Nutzungsmuster sowie die soziale Kohäsion der Beziehungsgefüge.
In der in der Übersetzung des Klassikers „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ wird der von Jane Jacobs (1963) verwendete Begriff der „Neighborhood“ auf die deutsche Bezeichnung der „Nachbarschaft“ enggeführt. Jacobs legt das Verständnis der Neighborhood weiter das Gebiet aus, das jemandes Wohnung umgibt – und das ist das Quartier, d. h. die „Hood“, die eine räumliche „Haube“ bildet und somit mehr als die nah beieinander wohnenden Nachbarn adressiert.
Schlüsselmerkmale des Quartiers
Ohne Zweifel hat die baulich-räumliche Ausgestaltung einer kleinteilig-überschaubar gestalteten Siedlungsstruktur mit einer klaren Zonierung des Wohnumfeldes, einer menschlichen Maßstäblichkeit sowie fußläufig zu bewältigenden Entfernungen eine große Bedeutung für die Herausbildung des Quartiers. In der „Pattern Language“ formulierten Christopher Alexander und sein Team, dass die Menschen „eine identifizierbare räumliche Einheit“ brauchen, zu der sie sich zugehörig fühlen (vgl. 1995, S. 85).
Neben der materiellen Erscheinung – von der (historischen) Bausubstanz bis zum Straßenbild – und neben der physischen und symbolischen Markierung von Grenzen hat das Quartier aber darüber hinausgehend auch eine soziale Bedeutung als Umfeld des persönlichen Zuhauses der Bewohnerinnen und Bewohner (vgl. Galster 2019, S. 33 ff.): In der Wahrnehmung des Quartiers spielen soziale Attribute wie demographische Strukturen, der ökonomische Klassenstatus sowie ethnische und religiöse Merkmale der Bevölkerung eine wichtige Rolle. Eine weitere Perspektive bezieht sich auf Attribute der öffentlichen Versorgung mit Kindertagesstätten, Schulen, Freizeiteinrichtungen, Parks und Sicherheitskräften der Polizei sowie die Erreichbarkeit von Einzelhandelsgeschäften und Arbeitsorten. Schließlich ist für die Einordnung eines Quartiers das Vorhandensein politischer Netzwerke bedeutsam, über die Bewohnerinnen und Bewohner direkt – oder indirekt über gewählte Vertretungen – Einfluss auf die Stadtpolitik nehmen können. Schließlich spielen auch Merkmale der sozialen Kohäsion eine Rolle, die einen Ausdruck findet in den informellen Netzwerken der Wohnbevölkerung, im Vertrauen zwischen den Nachbarn sowie in gemeinsamen Institutionen wie beispielsweise Feste.
Die Ausprägungen dieser verschiedenen Attribute und Merkmale bilden die Grundlage, ob ein Quartier als „lebenswert“ wahrgenommen wird. Die baulich-räumliche Struktur – von der Architektur der Gebäude, die Nutzbarkeit und Gestaltung von Freiflächen – erleichtert die Identifikation mit dem Quartier, den Aufenthalt im öffentlichen Raum und die Aneignung des Wohnumfeldes. Aber für die Einordnung eines Quartiers als lebenswert sind noch weitere Aspekte zu beachten: Das Spektrum reicht von der Qualität der Versorgung mit Waren und Diensten über Gelegenheiten für zufällige Treffen, die für den informellen Informationsaustausch genutzt werden können, und Gemeinschaftseinrichtungen, die Impulse für Kontakte und für das Knüpfen nachbarlicher Netzwerke geben, bis hin zu Möglichkeiten der Selbstverwaltung und Mitbestimmung. Auch die soziale Mischung gehört dazu, die von Ausgrenzung oder Vereinzelung bedrohte Personen sozial integriert und eine räumliche Segregation sozial benachteiligter Gruppen vermeidet.
Das Instrumentarium des Leitfadens „Lebenswertes Quartier“
Wenn also gefragt wird, ob ein konkretes Quartier lebenswert ist, muss das gesamte Spektrum der genannten Aspekte in Augenschein genommen werden. Allerdings gibt es bisher keine Instrumente, mit denen sich das überprüfen lässt. Deshalb hat die Sicherheitspartnerschaft im Städtebau in Niedersachsen (SIPA) ein entsprechendes Instrumentarium zur Bewertung, was ein Quartier lebenswert und lebendig macht, neu entwickelt (vgl. Schubert 2021). Die SIPA ist ein interdisziplinäres Expertennetzwerk auf dem Gebiet der Kriminalprävention im Städtebau (vgl. http://www.sicherheit-staedtebau.de/), das sich aus Vertreterinnen und Vertretern von Verbänden, Organisationen und Institutionen zusammensetzt, die im weitesten Sinne das Planen und Bauen beeinflussen können. In der „Vereinbarung über mehr städtebauliche Sicherheit und Kriminalprävention beim Planen und Sanieren von Wohnquartieren“ haben sie sich verpflichtet, in den Tätigkeitsfeldern der Architektur, des Städtebaus, der Wohnungswirtschaft, der Vertretung von Mieterinteressen und der Polizei dazu beizutragen, an der Verbesserung der Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger mitzuwirken, zu der auch die Erhöhung der Sicherheit im Wohnumfeld und im öffentlichen Raum gehört.
Im Austausch eines interdisziplinären Arbeitskreises wurde – koordiniert vom Büro SOZIAL • RAUM • MANAGEMENT [sozial-raum-management.de] – der „Leitfaden Lebenswertes Quartier“ entwickelt. Anschließend wurden im Jahr 2022 die Instrumente im großstädtischen Eisenbahnquartier Hannover Leinhausen und im mittelstädtischen Quartier Wunstorf Barne (Region Hannover) erprobt (vgl Schubert 2023). Die Grundlage des Instrumentariums bildet ein „Quartierbogen“, mit dem die Grunddaten und Basisinformationen des Quartiers erhoben werden. Der Quartierbogen und die Planunterlagen werden anschließend im Rahmen einer Vorprüfung auswertet. Als Ergebnis wird das Profil des Quartiers räumlich, infrastrukturell, sicherheitsbezogen, sozial und wohnungswirtschaftlich herausgearbeitet, so dass sich die Zonen und Wegeachsen, aber auch die Aktionsräume im Quartier, die näher unter die Lupe genommen werden sollen, schlüssig ermitteln lassen. Für die Bewertung der architektonischen und städtebaulichen Quartiersqualitäten kommen zwei „Auditbögen“ zur Anwendung. Bewertet werden damit die räumliche An-/Zuordnung und gestalterische Klarheit; die Aufenthaltsqualitäten im Freiraum; die Orientierung, Transparenz, Sichtachsen und Wegeführung im Quartier; die Abstellmöglichkeiten und Möblierung; sowie die Beleuchtungssituation. Um die Lebendigkeit im Quartier zu bewerten, kommt ein „Beobachtungsbogen“ zur Anwendung, der auf den methodischen Ansätzen von Jan Gehl aufbaut (vgl. 2015). Mit einem „Leitfaden“ für Gespräche mit lokalen Schlüsselpersonen werden die verschiedenen vielfältigen Hintergrundaktivitäten im Quartier abgebildet und die Ergebnisse der anderen Instrumente plausibilisiert. Das Instrument der „Passantenbefragung“ hilft ergänzend, um die Informationen aus dem Kreis der Bewohnerinnen und Bewohner sowie der Nutzer und Nutzerinnen als qualitativen Kontrast zu den Ergebnissen der Beobachtungen und der Audits verwenden zu können.
Die Anwendungsmöglichkeiten des Leitfadens sind vielfältig: Bereits im städtebaulichen Planungsstadium können Entwürfe und Ideenskizze überprüft werden, um Beratungshinweise zur Qualitätssicherung der Planung des Quartiers zu geben. Vorrangig geht es aber um die Bewertung eines bestehenden Quartiers, die aus insgesamt sieben Schritten besteht: (1) Im ersten Schritt wird ein „Prüfteam“ konstituiert, das sich interdisziplinär aus Fachleuten der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft, der Architektur und Stadtplanung, der Prävention, von im Quartier ansässigen Unternehmen, Gewerbetreibenden und Dienstleistern, Professionellen der Sozial- und Gemeinwesenarbeit, aber auch aus engagierten Bewohnerinnen und Bewohnern sowie Ehrenamtlichen lokaler Institutionen (wie Vereine, lokaler Präventionsrat, Mitglieder des Stadt-/Gemeinderats etc.) zusammensetzt. Es werden diejenigen Personenkreise berücksichtigt, die als Stakeholder für die Quartiersentwicklung eine wichtige Rolle spielen. (2) Auf der Grundlage von Daten und Hintergrundinformationen werden dann die städtebaulichen, wohnungswirtschaftlichen, sozialen und infrastrukturellen Kennzeichen des Quartiers herausgearbeitet. (3) Im Rahmen einer Vorprüfung werden die Informationen und Planunterlagen ausgewertet. Im Blickpunkt stehen z.B. die Eingangssituation, die Flächennutzung, das Netz der Straßen und Wege, aber auch die Park-, Grün- und anderen Freiflächen als „Rückgrat“ des Quartiers, das Vorhandensein von Sichtachsen, die Relation von Quartiersrändern und Quartiersmitte, die Aufenthaltsbereiche (auch für Kinder und Jugendliche) sowie die Erreichbarkeiten im Quartier. (4) Es werden die Teilstrukturen des Quartiers identifiziert, in denen die vertiefenden Quartiersbegehungen (Audits), die Beobachtung der Lebendigkeit des Quartiers und die Befragung von Passanten erfolgen können. (5) Im Rahmen von Quartiersbegehungen kommen die Instrumente vor Ort zur Anwendung. (6) Die Audit-, Beobachtungs- und Befragungsbögen werden abschließend ausgewertet. Auf dieser Grundlage werden die qualitativen Empfehlungen abgeleitet. Es wird festgehalten, welcher Handlungsbedarf durch die Anwendung des Leitfadens erkannt wurde.
Das Instrumentarium des Leitfadens „Lebenswertes Quartier“ steht auf der Internetseite der Sicherheitspartnerschaft im Städtebau in Niedersachsen (SIPA) zum Download zur Verfügung (vgl. https://www.sicherheit-staedtebau.de/nano.cms/der-leitfaden). Es wird empfohlen, das neue Instrumentarium anzuwenden, um die Qualität eines Quartiers zu bewerten und zukunftsfähige Empfehlungen abzuleiten.
Literatur
Alexander, Christopher et al. (1995): Eine Muster-Sprache (A Pattern Language, 1977). Wien: Löcker Verlag.
Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (Hrsg.) (2020): Neue Leipzig-Charta. Die transformative Kraft der Städte für das Gemeinwohl. Verabschiedet beim Informellen Ministertreffen Stadtentwicklung im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft am 30. November 2020, www.bmi.bund.de [Zugriff 30.04.2024].
Galster, George C. (2019): Making Our Neighborhoods, Making Our Selves. Chicago, London: The University of Chicago Press.
Gehl, Jan (2015): Städte für Menschen. Berlin: Jovis Verlag.
Jacobs, Jane (1963): Tod und Leben großer amerikanischer Städte. 3. Auflage, Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg, 1993.
Riege, Marlo/Schubert, Herbert (Hrsg.) (2002): Sozialraumanalyse. Grundlagen, Methoden, Praxis. Köln: 5. Auflage, Verlag Sozial • Raum • Management, 2016.
Schnur, Olaf (2013): Quartiersforschung revisited. Konzepte und Perspektiven eine stadtgeografischen Forschungsfeldes. In: Deffner, Veronika/Meisel, Ulli (Hrsg.). Stadtquartiere. Sozialwissenschaftliche, ökonomische und städtebaulich-architektonische Perspektiven (S. 17-40). Essen: Klartext.
Schubert, Herbert (2023): Alle reden vom Quartier, aber es fehlen Instrumente. Der neue Leitfaden „Lebenswertes Quartier“ schafft Abhilfe. In: RaumPlanung 220, Heft 1/2023, S. 64-70.
Schubert, H. (2021): Quartier und Sicherheit – Über sozialräumliche Perspektiven von Lebensqualität. In: sozialraum.de (13), Ausgabe 2/2021. www.sozialraum.de [Zugriff am 30.04.2024].
vdw/Verband der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft in Niedersachsen und Bremen e. V. (2017): Wie geht Quartier? Praxisbeispiele aus der Wohnungswirtschaft. Hannover: Eigenverlag.
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