Im Gemüse herumhängen – alternative Grünflächen mit essbarer Stadtmöblierung

Die Lebensmittelproduktion kehrt zurück in die Stadt (Foto: Michael Scheer)

Innerstädtische Grünflächen existieren in vielfältiger Form und werden in der jüngeren Vergangenheit von einer zunehmenden Vielfalt an Akteur:innen zusätzlich oder im Bestand neuartig erschlossen, gepflegt und multifunktional bespielt. Die große Anzahl an urbanen Agrikulturen in der Bundesrepublik stehen für diesen Trend, bei dem vorhandene oder neu gestaltete Grünflächen von sozialen Gemeinschaften nicht nur aufgesucht sondern auch, und das ist städtebaulich neu, aktiv gestaltet, eigenwillig möbliert und vorwiegend mit essbaren und trinkbaren Nutzpflanzen begrünt werden. Dahinter steht die Sehnsucht der Stadtbevölkerung, Lebensmittel selbstständig regional und saisonal herzustellen, ein Stück Stadtraum aktiv mitzugestalten, eine Grünfläche selbstständig zu entwickeln und sich auf diese Art mit ihrer jeweiligen Fläche zu identifizieren. Es sind im Rahmen dieser Bewegung sowohl ehrenamtliche als auch gewerbliche Betriebsstrukturen mit ganz neuen Wertschöpfungsketten entstanden, die projektbezogen Unterhalt, Verkehrssicherheit und Pflegeaufwand gewährleisten. Urbane Agrikulturen betreibende soziale Gemeinschaften rekrutieren sich traditionell aus ortsnahen Nachbarschaften, wobei sich auch neue Betriebsgemeinschaften wie bspw. soziale Dienstleister oder Wohnungsbaugesellschaften dazu gesellen. Ihnen allen ist gemein, dass sie Teilnehmenden städtebauliche Mehrwerte wie umweltgerechten Zugang zu urbanem Grün, naturnahe Erholung, stadträumliche Gestaltungsoptionen, gemeinwohlorientierte Handlungsspielräume oder inklusive Beschäftigungsmöglichkeiten bieten. Urbane Agrikulturen und die dahinter stehenden Gemeinschaften können auf diese Weise Quartiersentwicklungen stadtökologisch und soziologisch bedeutsam mitprägen und bieten neue Formen von Betriebs- und Finanzierungsmodellen, die sie von der kommunalen Grünflächenpflege abheben.

Hopfenplantage der Gemüsewerft auf dem ehemaligen Kelloggs-Areal in Bremen (Foto: Michael Scheer)

Die Lebensmittelproduktion kehrt zurück in die Stadt

850 urbane Agrikulturen alleine in Deutschland, 120 Hektar geplante urbane Landwirtschaft in Paris. Mittlerweile lassen sich im deutschen Städtebau sogar Credit Points im Rahmen einer Nachhaltigkeitszertifizierung erzielen, wenn signifikante Flächenvolumen zur Umsetzung von Urban Farming-Konzepten vorgehalten werden. Und so wundert es nicht, wenn sogar Gewächshäuser wie selbstverständlich in Bebauungsplänen auftauchen, selbst wenn zu Beginn der Planungen noch gar nicht klar ist, wer die Flächen oder Architekturen später bewirtschaften wird. Man ist überzeugt, dass es sich findet. Und so wird es vermutlich auch kommen. Denn es scheint wie in stiller Absprache gesetzt: die Landwirtschaft kehrt zurück in die Stadt. Und sie bringt Stadtmenschen in direkten Kontakt mit den Lebensmitteln, die sie tagtäglich konsumieren. Vielleicht sollte es zum jetzigen Zeitpunkt noch etwas angemessener formuliert werden: eine klein skalierte jedoch sehr enthusiastisch betriebene Lebensmittelproduktion kehrt zurück in die Stadt. Das Wort Landwirtschaft wäre in dreierlei Hinsicht fehlangebracht. Weder die momentan angebaute Menge an Lebensmitteln trägt signifikant zur innerstädtischen Versorgung bei, noch sind die dabei Beteiligten qualifizierte Landwirt:innen. Und ebensowenig können die Erlöse aus den erzielten Erntemengen einen wirtschaftlich nachhaltigen Geschäftsbetrieb sicherstellen. Denn sowohl die konventionelle als auch die ökologische Landwirtschaft bewirtschaftet mit schwerem Gerät viele Hektar, um über die Runden zu kommen. Wo hingegen die ‚Stadtwirtschaft‘, wenn die Jagd nach innerstädtischer Fläche positiv verlief, nur ein paar hundert Quadratmeter zur Verfügung hat und auf oftmals versiegelten Flächen oder toxikologisch bedenklichen Böden agieren muss. Der Wunsch nach dauerhafter Nutzung innerstädtischer Flächen konkurriert stets und zunehmend mit innerstädtischer Verdichtung und schlussendlich immobilienwirtschaftlichen Interessen. Einige Enthusiast:innen wissen sich zwar durchsetzen, jedoch werden sie oftmals nur temporär als Zwischennutzende toleriert. Wenn man so will, ist dieser Status Quo die Geburtsstunde des mobilen Hochbeetes. Als bewegliches Substrat, dass stets zu befürchten hat, umziehen zu müssen. Und als Pflanzenbehältnis, dass eine Bewirtschaftung zulässt, selbst wenn die Fläche versiegelt oder der Boden toxikologisch belastetet ist.

Hochbeetgarten mit ess- und trinkbaren Nutzpflanzen der Gemüsewerft in der Bremer Überseestadt (Foto: Michael Scheer)

Das Hochbeet konvertiert zum ikonischen Sinnbild. Es steht für eine zunehmende Anzahl an Hochbeetbepflanzenden, die ihrem großstädtischen Wunsch Ausdruck verleihen, dass sich Anbaumethoden und Lieferketten der konventionellen Landwirtschaft ändern müssen. Es steht für die Sehnsucht nach grüner Stadtentwicklung und dem Drang nach partizipativer Stadtraumgestaltung. Viele Großstädter:innen möchten aktiv an einer Ernährungswende mitarbeiten und ihren urbanen Lebensraum stadtökologisch mitgestalten. Sie möchten wieder in Kontakt sein mit der Herstellung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen, selbst wenn die Ernte nur einen kleinen Anteil des Eigenbedarfs abdeckt. Auf dem Balkon oder im Rahmen einer Mitarbeit an einem Stadtgartenprojekt.

Wirtschaftliche Nachhaltigkeit = städtebauliche Nachhaltigkeit

Landwirt:innen konvertieren zu Stadtwirt:innen? Zu einem Beruf, den es eigentlich noch gar nicht gibt? Zumindest steht dieser bislang in keiner Handwerksrolle. Der Job, wenn man denn von einem solchen sprechen will, hat sich selbst generiert. Weil Stadtmenschen ihn machen wollen. Und selbst dann, wenn sich damit nicht oder noch nicht der eigene Lebensunterhalt bestreiten läßt. Klingt vielleicht desillusionierend, ist aber auch gut. Denn der Wunsch und Wille ist erst einmal nicht Teil von Wertschöpfung sondern Ausdruck von Wandel. Die Aufgaben sind hochkomplex und reichen vom Gemüseanbau bis zur Pressearbeit. Es gilt erst einmal, Wertschöpfungsketten zu erkennen und im Rahmen ganz neuer Bedarfszusammenhänge zu erfinden. Sicherlich spielt der urbane Gartenbau zukünftig dabei eine ganz tragende Rolle. Denn es braucht definitiv Erwerbsarbeit, damit sich eine Lebensmittelproduktion nachhaltig in der Stadt durchsetzen kann. Nur wie kann dies gelingen, wenn die innerstädtischen Anbauflächen vermutlich stets zu klein bleiben werden und logischerweise die Erlöse ausschließlich aus dem Anbau von Obst, Gemüse und Kräutern alleine nicht ausreichen?

Biergarten mit Hopfenplantage der Gemüsewerft auf dem ehemaligen LKW- Parkplatz der Kellogg Deutschland GmbH in Bremen (Foto: Anna-Maria Meyer)

Einige urbane Agrikulturen haben sich auf den Weg gemacht, ihre hochindividuellen ‚stadtwirtschaftlichen‘ Businesspläne auszufeilen und haben Finanzierungsmodelle entwickelt, die Geschäftsfelder wie Jungpflanzenverkauf, Gemüsekisten, Gartengastronomie und Hochbeetbau sowie soziale und bildende Dienstleistungen umspannen. Hinzu kommen oft auch Fördermittel, die befristete Anstellungsverhältnisse und grundlegende Investitionen ermöglichen. Investoren tragen ihren Teil dazu bei, in dem sie innerstädtische Flächen, Architekturen oder die Entwicklung ganzer Produktionsmodelle (bspw. im Rahmen des Indoor-Farming oder bei Aquaponik-Modellen) vorfinanzieren und auf deren mittelfristigen wirtschaftlichen Erfolg setzen.

 

Die urbanen Agrikulturen haben sich zu einer Art Showroom für Lebensmittel entwickelt und marktwirtschaftliche Prinzipien sind ihnen in der Mehrheit erst einmal egal. Sie repräsentieren städtebauliche Mehrwerte für eine Stadtbevölkerung, die ihren Stadtraum nicht ausschließlich konsumieren sondern aktiv gestalten möchte. Das ist neu. Und für Traditionalist:innen im Städtebau oft nur schwer in den Griff zu kriegen. So wundert es nicht, dass immer mehr Hochbeete -dauerhaft oder temporär- im Stadtbild auftauchen. Palettenhochbeete können ganz einfach per LKW und Hubwagen auf innerstädtischen Parkplätzen, asphaltierten Strassenzügen, in Einkaufsmeilen oder auf öffentlichen Plätzen positioniert werden. Selbst wenn dies nur zeitlich befristet sein sollte und die Beete nach ein paar Wochen wieder abgefahren werden müssen. Denn die Stadt muss sich im anscheinend unumkehrbarem Wachstumsprozess gerade neu erfinden. Und bauen. Ganz plötzlich verlangen Kommunen, Marketing-Strategen, Verkehrsplaner:innen, Landschaftsarchitekt:innen und Kulturschaffende nach zeitgenössischen Produkten und Dienstleistungen zur Umsetzung von grünen Innenstädten. Sei es im Rahmen der ‚Essbaren Stadt‘ oder bei der (temporären) Stilllegung von Strassenzügen oder Parkplätzen. Stadtökologische Probleme wie die Entstehung von Hitzeinseln, der Bedarf an grünen Lösungen zur Attraktivierung deutscher Innenstädte oder im Rahmen der Push- und Pull-Methoden zur Verdrängung des Autoverkehrs aus zentralen Lagen sind allesamt Katalysatoren für neue Produkte und Dienstleistungen des urbanen Gartenbaus. Das mobile Hochbeet bietet trotz aller technischer Unausgereiftheit hier ganz konkrete Lösungen. Denn nun geht es nicht mehr nur um den Anbau von Lebensmitteln, sondern auch um urbane Aufenthaltsqualitäten. Es geht um landwirtschaftliche Stadtraumgestaltung. Oder vielleicht trefflicher formuliert um ‚stadtwirtschaftliche‘ Stadtraumgestaltung.

Temporäre Hochbeetinstallation mit essbaren Nutzpflanzen in der Bremer Innenstadt (Foto: Michael Scheer)

Alles wird in diesem Segment gerade neu erfunden, von der Gestaltästhetik über die Wertschöpfung bis hin zur Materialkunde und Betriebstechnologie. Es gibt bislang noch keine finalen Antworten und sicherlich ist der Wunsch nach Finalität zum jetzigen Zeitpunkt fehlangebracht. Klar scheint zu sein, dass weder die konventionelle Landwirtschaft noch der klassische Gartenbau bei dieser Entwicklung eine führende Rolle einnehmen werden. Und klar ist, dass der Karotte im Hochbeet im Städtebau nicht nur eine ernährende Rolle zukommt. Es ist schlichtweg eine neue Idee und neues geistiges Substrat. Dahinter stehen Meinungen und Haltungen, die es bislang so noch nicht gab.

Beispiel: die Bremer Gemüsewerft

Die Gemüsewerft fusioniert seit 2014 biozertifizierte urbane Landwirtschaft mit sozialer Dienstleistung. An insgesamt drei innerstädtischen Standorten bewirtschaftet das Projekt eine Gesamtfläche von 7.500 m². Auf der Gemüsewerft arbeiten nicht-erwerbsfähige Menschen mit Behinderung im Rahmen einer niedrigschwelligen Beschäftigung und werden dort von gärtnerischen und sozialpädagogischen Fachkräften angeleitet bzw. betreut. Neben den Einnahmen aus Mitteln der Eingliederungshilfe, die die Kernfinanzierung des Projektes sicherstellen, generiert das Vorhaben Wertschöpfung mit Dienstleistungen des urbanen Gartenbaus und dem Verkauf von Erzeugnissen. Darüber hinaus erschliesst und betreibt die Gemüsewerft seit 2020 ihren neuen Biergarten auf dem ehemaligen Kelloggs-Areal auf der Bremer Überseeinsel, das sukzessive zum Wohn- und Gewerbequartier entwickelt wird. Noch bevor die ersten Wohnungen fertiggestellt sind, wird, übrigens zum ersten Mal in der Geschichte der deutschen Urban Gardening-Bewegung, ein Stadtgartenprojekt als integraler Bestandteil in der Quartiersentwicklung verankert.

Podiumsdiskussion mit Renate Künast zur ‚grünen Stadt von morgen‘ auf der Bremer Gemüsewerft (Foto: Erik Sachtleber)

Auf einem ehemaligen LKW-Parkplatz hat die Gemüsewerft in den letzten Jahren ein bis dahin für die Öffentlichkeit unzugängliches 1.500 m² grosses Areal mit 80 Meter Weserufer als neuen Standort erschlossen. Neben der Herstellung von Gemüse und Kräutern in etwa 300 Hochbeeten wird dort Hopfen für die Bremer Braumanufaktur angebaut, deren Biere wiederum im Biergarten ausgeschenkt werden. Der hochattraktive Standort bietet naturnahe Aufenthaltsmöglichkeiten in zentralster Lage und wird als grüner und inklusiver Bildungs- und Veranstaltungsort die Quartiersentwicklung noch vor Bezug durch Bewohner:innen bedeutsam mitprägen. Durch seinen umweltgerechten und inklusiven Charakter wirkt das Projekt bereits vor Bewohner:innenzuzug präventiv gegen die Entstehung von ausgrenzender Segregation und bietet der Bremer Überseestadt nahräumliche Aufenthalts- und Begegnungsmöglichkeiten. Als multifunktionale urbane Landwirtschaft vermittelt die Gemüsewerft ihren Beschäftigten, Biergarten-Gästen und Besucher:innen nachhaltige Konsumgewohnheiten und Produktionsmuster und erfüllt dabei eine Vielzahl an umweltpolitischen sowie städtebaulichen Nachhaltigkeitszielen. Das Projekt hat sich zum Modell für grüne und nachhaltige Stadtentwicklung entwickelt und versteht sich als Teillösung zur Umsetzung klimaresilienter Städte.

Kontakt:

Gemüsewerft c/o Gesellschaft für integrative Beschäftigung mbH
Michael Scheer
Gröpelinger Heerstrasse 226
28237 Bremen
0421- 69 19 478
scheer@gib-bremen.info
www.gemüsewerft.de
www.stadtwirte.de

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[Beitrag von Michael Scheer, LG Niedersachsen, Bremen]

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