Naturtheater Energielandschaft

Wer mit der Bahn von Berlin nach den Inseln Usedom oder Rügen fährt, darf sich zwischen Angermünde und Prenzlau auf ein überraschendes Schauspiel freuen: Da beginnen auf einmal die Gleise um die sanften Hügel der Uckermark zu schwingen, hie und da von Waldrändern gesäumt, die sich himmelweit öffnen, sobald zwischen Hecken und Feldern ein glitzernder See zum Vorschein kommt. Diese Panoramatour ist kein Zufallstreffer verspielter Landvermesser, sie ist eine Kunstlandschaft von höchstem Rang: Kein Geringerer als Peter Joseph Lenné hatte hier als Berater der betroffenen Grundbesitzer den Versuch unternommen, das neue Technikphänomen Eisenbahn mit dem Ideal einer parkähnlichen Agrarflur zu versöhnen. Die vom Landschaftskünstler entworfene Streckenführung sollte den künftigen Zugpassagieren als ‚Reiseflaneuren‘ ein Naturtheater bieten.
Dass technische Erfindungen niemals von sich aus zu gültigen Gestaltbildern führten, kann man an den Kindertagen des Automobils gut studieren. Oder an der Elektrizität: Noch heute bezeugen zahllose Umspannstationen im Heimatstil, wie man einst dieses Neuzeitwunder regionaltypisch einzubinden hoffte. Der Deutsche Werkbund wurde eigens gegründet, um für die Vielfalt an Innovationen, die das Leben damals einschneidend veränderten, sinnlich angemessene Erscheinungen zu finden.
Es ist noch nicht lange her, da wurde die Produktivität einer Industriegesellschaft an Zahl und Höhe ihrer Schornsteine gemessen, wobei der meiste Stolz den gewaltigsten Werken mit der am weitesten sichtbaren Rauchfahne galt. Heute verschwinden im Zuge des Strukturwandels die Schlote aus den Landschaften wieder, was – zumindest bei unmittelbar Betroffenen – oft noch als Zeichen des Niedergangs gilt. Dass an die Stelle alter Industrieareale nun ein neuer Typus von Produktionslandschaften tritt, wird in dem Zusammenhang viel zu selten offensiv thematisiert: Windfarmen oder Solarplantagen sind keine mutwilligen Aggressionen gegen beschauliche Landschaft. Von dort kommt jetzt unser Strom. Das sind Kraftwerke!

Erstes Windrad der Uckermark. Kein Denkmal. Kein Wallfahrtsort. Nach Verschleiß abgerissen. (Foto: Wolfgang Kil)

Anders als bei der ‚freien Natur‘ gilt für Kulturlandschaften, dass man sie nur dann als wirklich schön erlebt, wenn sie aus rationaler und moralischer Sicht wünschenswert erscheinen. Rationales, moralisches und ästhetisches Urteil müssen im Einklang sein. Wohl wird alternative Energiegewinnung als Technologie begrüßt, ihre Figurationen sind im Alltag angekommen, doch als direkte Nachbarn eher unerwünscht. Für ihre gesellschaftliche Akzeptanz sind funktional-rationale Argumente vorhanden, ästhetische Argumente kommen bei der Anlagenplanung regelmäßig zu kurz. So steht es in dem anschaulichen Ratgeber „Windenergie & Landschaftsästhetik“ zu lesen, den Sören Schöbel von der TU München schon 2012 verfasst hatte. Dem Professor für Landschaftsarchitektur ging es um die Frage, ab wann technische Innovationen in der Kultur-Landschaft nicht nur toleriert, sondern als sinnstiftend erkannt und bejaht werden. Als Königsweg erschien ihm dabei das Eingehen auf vorgefundene, „gewachsene“ Strukturen. Planung solle sich „als Teil eines historischen Prozesses verstehen“, bei dem es nicht darum geht, „neue Charakterlandschaften zu kreieren oder ‚landschaftstypische‘ Windturbinen zu designen, sondern darum, das neue Element intelligent in die bestehende Landschaft ‚einzuschreiben‘“.
Aber kann man die Welt retten ohne selbstbewusste Gesten? Ist ein Epochenprojekt wie die Energiewende keinerlei Signalzeichen wert? Letzte, noch um die Jahrtausendwende errichtete Kohlekraftwerke wie Schwarze Pumpe in Brandenburg oder Lippendorf bei Leipzig kommen mit der Eleganz riesenhafter Designobjekten daher. Da waren Auslaufmodelle von Karosserieschneidern noch mal richtig auf chic frisiert worden. Warum sollen echte Zukunftstechnologien nicht auch von solchen Tricks der Warenästhetik lernen? Weil die Standorte und technischen Parameter alternativer Energiewirtschaft einerseits in immer gewaltigere Dimensionen vorstoßen, andererseits gerade in Siedlungsnähe (und damit praktisch bald schon ‚in Nachbars Garten‘) ihren Strukturvorteil Dezentralität entfalten, muss ordnender, ‚Sinn verkündender‘ Gestaltungswille unbedingt deutlicher – manche mögen sagen: sinnlicher – zur Wirkung kommen.
Also Kurzumtriebsplantagen als Gartenkunstwerke! Windfarmen als Land-Art-Inszenierung! Die Phantasie wartet auf ihre Entfesselung.
***
Nachsatz:
Den vorliegenden Text habe ich 2012 geschrieben. Er kommt mir regelmäßig in den Sinn, wenn auf Überlandtouren durch die Weiten Brandenburgs oder Sachsen-Anhalts immer wilder durcheinander sprießende Windmühlenfelder an mir vorüberziehen, deren schiere Menge zu zählen ich seit langem aufgegeben habe. Mein zehn Jahre altes Plädoyer jetzt noch einmal in die Debatte zu werfen, entschied ich aber unlängst auf einer Bahnreise durch Baden-Württemberg. Dort hängen an verschiedenen Haltestationen zutiefst verstörende Plakate, von denen es schreit: STOP WINDENERGIE!

[Beitrag von Wolfgang Kil, freier Architekturkritiker]

Ein Gedanke zu „Naturtheater Energielandschaft

  1. Burkhard Petersen Antworten

    Ja, man stelle sich eine Gesellschaft vor, in der das Privateigentum an Grund und Boden abgeschafft ist und jegliche Nutzung des Raums durch einen zuständigen Rat des Souveräns nach langer und gründlicher Abwägung auf Zeit gewährt wird. Und das in die Abwägung neben wirtschaftlichen und ökologischen womöglich auch gestalterische, ästhetische Argumente einfließen. Kann man sich nicht vorstellen, oder? Wo uns das private Eigentum als höchstes Gut so viel Freiheit, Reichtum und Wohlstand gebracht hat.
    Vielleicht muß man es mal ausprobieren, denn die regionalen Planungsgemeinschaften mit ihren Teilplänen Wind haben nicht wirklich Gestaltungsvermögen bewiesen. Das der Souverän nicht auf jeden ‚Solarexpress‘ aufspringt hat er auch gerade im Wallis gezeigt. Da muss man ihn schon etwas ernster nehmen, vermute ich.

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