Partizipation für eine klimagerechte Stadt bei anhaltendem Wohnungsmangel

Jonas Bultmann, Studierender an der Hochschule Bremen

Beitrag aus dem Seminar „Quartiersforschung“ an der School of Architecture Bremen, WiSe 2023/2024.

 

Es sind Zeilen wie diese: „In Deutschland gibt es einen ,neuen Notstand beim Wohnen’“ (Bühren, 2023) oder „Demnächst Meeresspiegelanstieg auch in ihrer Nähe“ (Fischer, 2023), welche aufhören lassen. Die Berichterstattungen insbesondere zur Klimakrise nehmen in Menge und Dramatik zu (Tschötschel et al., 2023). Auch die Folgen der Klimakrise für unsere Quartiere sind bereits messbar. Zu beachten dabei: Stadtteile mit ökonomisch ärmeren Bewohner:innen sind stärker betroffen (Blickle et al., 2023).

In Anbetracht dieser Situation versuchen Bewegungen, Vereine oder Individuen in vielen Städten und Gemeinden partizipative Prozesse zu initiieren, um unsere Lebensführung klimagerecht zu verändern. Dies geschieht oftmals auf der Ebene des städtischen Quartiers. Die Definition von Quartieren aber ist kontextbezogen und unterscheidet sich in der Fachliteratur oder in der subjektiven Wahrnehmung. Im Folgenden skizziere ich deshalb eine eigene Auslegung des Quartiersbegriffs und stelle diese der Verwendung des Quartiersbegriffs in der Leipzig-Charta gegenüber. Dabei nehme ich insbesondere die Frage nach Teilhabe und Bürger:innenbeteiligung für eine klimagerechte Quartiersentwicklung bei anhaltendem Wohnmangel in den Blick.

Neue Vahr - (c) c.v.Wissel
Neue Vahr - (c) c.v.Wissel

Entwurf einer Definition

Der Begriff „Quartier“ leitet sich aus dem lateinischen Wort „quarterium“ ab und bedeutet sinngemäß „Viertel“ (Grimm and Grimm, 2023). Quartiere beschreiben Stadträume, welche aus der soziologischen Sichtweise geografisch nicht klar definiert sind und für die die Konstruktion von Zugehörigkeit durch ihre Bewohner:innen und Nutzer:innen individuell erfolgt (vgl. Schnur, 2021).

Aufgrund der Vielschichtigkeit von Quartieren kommt es zu vielen unterschiedlichen Interpretationen, welche sich entsprechend der Betrachtungsweise, z.B. planerisch, ökonomisch oder soziologisch, differenzieren (Deffner and Meisel, 2013). Historisch betrachtet, als Wohnort von institutioneller Seite im anthropogenen Gefüge errichtet, sind Quartiere ständigen sozioökonomischen Veränderungsprozessen ausgesetzt (Drilling and Schnur, 2012). Ihre Entwicklung ist geprägt durch die Bewegungen und Interaktion der Bewohner:innen, welche sich „[…] zu einem komplexen Bezugssystem verknüpfen“ (Schnur, 2021: 55).

Der Staat fordert Bürgerbeteiligungen im Entstehungsprozess von Baugebieten sowie größeren städtebaulichen Veränderungen, welche in Bebauungsplänen per Gesetz (§3 Abs.1 BauGB) reguliert werden. Bei bereits etablierten Quartieren ist dies nicht geregelt und Teilhabe beruht auf Motivation. Partizipative Prozesse fördern Bindung und Identifikation zum Ort. Sie bergen das Potenzial, Quartiere nachhaltig zu verändern und resilienter zu gestalten (Drilling and Schnur, 2012).

 

Beteiligung als Motor für Quartiersprozesse

Bei der Formulierung dieser Definition fällt mir die Bremer Initiative „Rottkäppchens Garten“ ein: Eine ungenutzte Fläche an einer innerstädtischen Straße wurde von Personen zu einem Begegnungsort mit Gemüsegarten umfunktioniert. Immer wenn ich vorbeifuhr, sah ich Menschen auf improvisierten Möbeln zusammensitzen. Mit der Bebauung des besagten Grundstückes ist das Projekt in Absprache mit Politik und Verwaltung an den Rembertikreisel, ein überdimensioniertes Teilstück einer nie fertiggestellten Stadtautobahnplanung, gezogen (Troue, 2022).

Die Initiative und ihr Umzug zeigen exemplarisch die ständige Wechselwirkungen von gesellschaftlichen und strukturellen Faktoren und wie diese die Qualität in Quartieren beeinflussen. Das Urban Gardening-Projekt Rotkäppchens Garten ist ein Beispiel für eine Aufwertung, angestoßen durch einen partizipativen Prozess. Bauliche Umgestaltungen prägen unmittelbar die sozialen Strukturen und ökonomischen Interessen (Deffner and Meisel, 2013).

Ein weiterer Faktor für die Beteiligung von Bürger:innen wird durch politische und planerische Steuerung beeinflusst: Bauliche Veränderungen in dem Gefüge der Stadt werden oft mit gesellschaftlicher Einbindung legitimiert. Auf kommunaler Ebene wirkt sich die Qualität dieser Beteiligungsverfahren unmittelbar auf die Quartiere aus: Verlaufen sie auf Augenhöhe, d.h. werden sie als „fair“ wahrgenommen, so führt dies zu einer höheren Beteiligung in Quartieren. Ein höheres Engagement und Akzeptanz können die Resonanz sein, welche sich in weiteren Verfahren mit partizipativen Verfahren festigt (Kuder, 2019: 36–37).

 

Neue Leipzig-Charta, Quartiere und Beteiligung

An diesem Punkt setzt die Neue Leipzig-Charta an, die den Fokus der Stadtentwicklung stärker auf das Gemeinwohl legt. Das Quartier wird in ihr als „räumliche Ebene“ sowie als Räume mit verschiedenen Funktionen und Herausforderungen benannt. Die Entwicklung globaler sowie lokaler städtischer Ebenen zeichne sich durch eine Kooperation des gesellschaftlichen „Bottom Up“ und des legislativen „Top Downs“ ab, welche insbesondere auf der Quartiersebene erprobt werden könne (BBSR, 2021). Mit ihrer Botschaft, partizipative Prozesse für eine nachhaltige Stadtentwicklung unter der Einbindung verschiedener Akteur:innen, vor allem der Bürger:innen, anzustoßen, deckt sich die Charta in Teilen mit der Definition Schnurs, nach der Quartiere eine „[…] interaktive Struktur […]“ darstellen (Schnur, 2014: 43).
Doch wie kommt es zu freiwilligen Bürgerbeteiligungen, welche auf der Quartiersebene stattfindet? Partizipative Prozesse beruhen oft auf einer subjektiven Ablehnung bestehender Strukturen und auf dem Wunsch, Missstände zu beheben. In Quartieren wird dies deutlich, da Wohnquartiere oft der Lebensmittelpunkt vieler Menschen sind (Fritsche, 2011: 15 ff.). In Bremen Tenever gelang es z.B. in den 1970er-Jahren mithilfe von Bürgerinitiativen über die Planungsfehler des damals sogenannten „städtebaulichen Modellquartiers“ aufmerksam zu machen. Mittlerweile gibt es eine:n Quartiersmanager:in, welche:r als Ansprechpartner:in zwischen den Akteur:innen vermittelt (Fritsche, 2011: 112 ff.).

In Quartieren ist ein Trend zu mehr Partizipation und Veränderungen durch Beteiligungen spürbar. Die Qualität dieser Verfahren ist jedoch schwankend und es lässt sich zwischen „Top Down“- oder „Bottom Up“-Ansätzen unterscheiden (Rießen und Knopp, 2015: 202 ff.). Was sind begünstigende Faktoren für echte Beteiligung und welche Initiativen für eine nachhaltige Stadtentwicklung gibt es? Welche Angebote müssen von staatlichen Institutionen kommen, insbesondere zur klimagerechten Stadt und Abfederung des Wohnraummangels?

 

Klimagerechte Quartiere der Zukunft

Ich stelle mir Quartiere vor, welche gemeinsam mit Wärme und Strom aus erneuerbaren Energien versorgt werden. Freiräume dienen einer klimaresilienten Stadt zur Kühlung und zur Sicherung einer größeren Artenvielfalt der Flora und Fauna. Dank Quartiersgaragen gehören mit Autos vollgeparkte Straßen der Vergangenheit an. Anstelle von Neubauten gibt es eine Umbauordnung, Wohntauschangebote verringern den Flächenverbrauch und durch Aufstockungen gewonnene Räume passen sich auch den zukünftigen Bedürfnissen der Quartiersbewohner:innen an.

Solch ein Quartier konnte ich in meinen Recherchen nicht finden. Wie auch? Es beschreibt eine Utopie des potenziell Möglichen. Doch um sich dieser Utopie so weit wie möglich anzunähern braucht es Partizipation und die Initiative von Bürger:innen.

 

Literatur

Blickle, P., Endt, C., Ehmann, A., Fische, L., Grone, N.P., 2023: So trennt Hitze die deutschen Städte. Zeit Online.
BMWSB, Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, 2023: Die Neue Leipzig-Charta. https://www.bmwsb.bund.de/Webs/BMWSB/DE/themen/stadtwohnen/ stadtentwicklung/neue-leipzig-charta/neue-leipzig-charta-node.html (Zugriff: 11.11.23).

Bühren, K., 2023: In Deutschland gibt es einen „neuen Notstand beim Wohnen“. Handelsblatt.

Deffner, V., Meisel, U., 2013: Quartiere in der Stadt, in: StadtQuartiere: Sozialwissenschaftliche, ökonomische und städtebaulich-architektonische Perspektiven. Klartext, Essen, S. 7–16.

Drilling, M., Schnur, O., 2012. Nachhaltigkeit in der Quartiersentwicklung – einführende Anmerkungen, in: Nachhaltige Quartiersentwicklung: Positionen, Praxisbeispiele und Perspektiven, VS Research: Wiesbaden, S. 11–41.

Fischer, L., 2023: Demnächst als Meeresspiegelanstieg auch in Ihrer Nähe. Zeit Online.

Fritsche, M., 2011: Mikropolitik im Quartier: Bewohnerbeteiligung im Stadtumbauprozess, 1. Auflage, VS Research: Wiesbaden.

Grimm, J., Grimm, W., 2023: Quartier. Deutsches Wörterbuch, digitale Fassung im Wörterbuchnetz Trier Cent. Digit. Humanit.

Hackenberg, K., Vogel, F., Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hrsg.), 2021: Neue Leipzig-Charta: die transformative Kraft der Städte für das Gemeinwohl. Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), Bonn.

Kuder, T., 2019: Lokale Demokratie, in: Schnur, O., Drilling, M. (Hrsg.): Quartier und Demokratie: Theorie und Praxis lokaler Partizipation. Zwischen Fremdbestimmung und Grassroots, Quartiersforschung. Springer VS, Wiesbaden, S. 29– 38.

Rießen, A. van, Knopp, R., 2015: Partizipation von unten?, in: Knabe, J., Riessen, A. van, Blandow, R. (Hrsg.): Städtische Quartiere gestalten: Kommunale Herausforderungen und Chancen im transformierten Wohlfahrtsstaat, Urban Studies. Transcript, Bielefeld, S. 201–222.

Schnur, O., 2021: Quartier und soziale Resilienz, in: Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (Hrsg.): Memorandum „Urbane Resilienz“. Berlin, S. 54–55.

Schnur, O., 2014: Quartiersforschung im Überblick: Konzepte, Definitionen und aktuelle Perspektiven, in: ders. (Hrsg.): Quartiersforschung: zwischen Theorie und Praxis, Quartiersforschung. Springer VS, Wiesbaden, S. 21–58.

Troue, U., 2022: Pop-up-Garten am Rembertikreisel. Weser Kurier.

Tschötschel, R., Schumann, N., Roloff, R., Brüggemann, M., 2023: Der Klimawandel im Öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Media Perspekt., S. 574–581.

 

 

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