Kreativität und Kultur – Basis sozialer Stadtquartiere?

Christina Tillmans, Studierende an der Hochschule Bremen

Beitrag aus dem Seminar „Quartiersforschung“ im Lehrgebiet „Theorie der Stadt“ an der School of Architecture Bremen, WiSe 2023/2024.

Die Suche nach den Akteuren, die ein Quartier zum Leben erwecken und das gemeinschaftliche Miteinander in entscheidendem Maße stärken, führt zu den Hotspots des städtischen Raumes: zu Theatern, Gastronomie oder auch zu sozialen Treffpunkten im Freien. Die nähere Betrachtung der Alten Bremer Neustadt erlaubt für diese Suche einen Einblick in ein innerstädtisches Quartier, das im vergangenen Jahrzehnt besonders durch die Kreativ- und Kulturszene geprägt wurde. Die Shakespeare Company, die Alte Schnapsfabrik, das PAPP-Café, der alternative Weihnachtsmarkt Lichter der Neustadt – sie alle weisen darauf hin, dass es sich bei der Alten Bremer Neustadt um ein heterogenes Experimentierfeld handelt, in dem Stadt und Quartier aus dem Engagement einer lebendigen Kunst- und Kulturszene entstehen. 

Doch was sind, bzw. waren die Schlüsselfaktoren, die der Kreativszene in der Alten Neustadt Auftrieb gaben oder noch immer geben? Welche Rahmenbedingungen finden Quartiersakteure hier vor und wie wird sich die Neustadt zukünftig entwickeln? Diese Fragen habe ich mit der Referent*in für Kulturflächenkoordination der Stadt Bremen, Jeen Burdorf, in einem Expert:inneninterview erörtert. Dabei stellte sich auch die Frage, wie Kreativität und Kultur überhaupt zu definieren seien und wer alles als Quartiersakteure mit in die Betrachtung gezogen gehört.

Papp Café, © Christina Tillmans.
Papp Café, © Christina Tillmans.

Kreativ-Akteure im Quartier

Die Wirtschaftsförderung Bremen (WfB) sieht einen großen Einfluss der Kreativwirtschaft auf den gesamten wirtschaftlichen Strukturwandel, der folgerichtig durch eine bewusste Förderung von Kreativen katalysiert werden soll. Das Ziel dieses Ansatzes liegt für die WfB vor allem im ökonomischen Wachstum Bremens sowie in der Konstruktion des „Image einer modernen Metropole“ (WfB, o.D.). Auch die Funktion der Kreativszene als Seismograph für die Herausforderungen der Zukunft wird erkannt; hier werden als Teilbereiche insbesondere die Film- und Verlagsbranche, Journalismus, Einzelhandel, Ausstellungen sowie Architekturbüros und Designwirtschaft oder auch Werbung aufgezählt (Ebd.). Ein Beispiel für eine solche kommerziell ausgerichtete Kreativwirtschaft findet sich in der Alten Neustadt in dem „Agentur- und Kreativzentrum“ Alte Schnapsfabrik, wo sich verschiedene Agenturen und Freiberufler zusammengetan haben, um ein größeres Spektrum an kreativen Dienstleistungen anbieten zu können (Alte Schnapsfabrik, o.D.). 

Doch auch – oder sogar: insbesondere – Einzelpersonen haben offenbar einen immensen Einfluss auf die Gestaltung eines Stadtteils. Unter Überschriften wie „[…] Kreative erobern Kreuzung“ (Mörtel, 2016) oder „[…] Kreative beleben einen Bremer Stadtteil“ (Raveling, 2016) bezogen sich Wirtschaftsförderung und Tagespresse 2016 zum Beispiel explizit auf die Initiativen der Privatpersonen Timo Schumacher und Nicolas Hirschmann. Durch die Eröffnung des PAPP und die subtile Umgestaltung des kleinen Platzes vor dem schmalen Ladenlokal, markierten die beiden einen neuen Eingang zur Alten Neustadt und werteten den öffentlichen Raum vor dem noch heute beliebten PAPPCafé erheblich auf – und zwar aus eigenem Antrieb (Ebd.). Der Fokus der beiden Stadtmacher lag dabei von Anfang an darauf, dass Menschen den Platz nicht mehr länger meiden, sondern sich dort begegnen können sollten – ohne den Zwang, etwas zu konsumieren (Mörtel 2016). Genauso soll das alternative Kulturfestival Lichter der Neustadt, das jeden Winter von dem gemeinnützigen Verein Kultur Kraken e.V. ausgerichtet wird, für alle zugänglich sein (KulturKraken, o.D.). 

Vernetzung spielt bei diesen Initiativen eine große Rolle, denn einerseits haben sich die beiden Initiatoren Timo Schumacher und Nicolas Hirschmann erstmals im temporären Kultureinrichtungshaus „dete“ an der Lahnstraße kennengelernt, und andererseits unterstützt man sich gegenseitig – beispielsweise in Form des Neustädter Kulturnetzwerkes Vis-A-Vis (Mörtel 2016). Des Weiteren nehmen soziokulturelle Komponenten in den Projekten einen großen Raum ein, denn die genannten Orte werden, bzw. wurden, auch für Seminare, als Repair-Café oder Kleiderbörsen genutzt, zu denen alle eingeladen sind (Raveling 2016). Hinzu kommt: Die Neustädter Ateliers von Kunst und Kunsthandwerk profitierten ebenfalls von diesem Aufschwung und konnten sich und ihre Arbeiten in der eigenen Werkstatt oder auf den ausgerichteten Märkten präsentieren (Neustadt Magazin, o.D.). 

Ein dritter quartiersstiftender Akteur in der Alten Neustadt ist die Hochschule Bremen als Bildungsstandort und Anziehungspunkt für jüngere Menschen, die oftmals ihren Wohnstandort mitgestalten möchten (vgl. Raveling 2016).


Die Rolle von Kulturflächen 

Im Interview berichtet Jeen Burdorf von den Bedingungen, die Kultur- und Kreativakteure in der Alten Neustadt vorfinden, bzw. davon, was viele Kreativschaffende zunächst in den Stadtteil links der Weser lockte. Jeen Burdorf ist Referentin für Kulturflächenkoordination der Stadt Bremen und beschäftigt sich grundsätzlich mit der Frage, wie Begegnungsorte in der Stadt geschaffen oder dauerhaft erhalten werden können. 

„Im letzten Jahrzehnt hat sich die Alte Neustadt sehr geändert […]. Es gab auch vorher schon Kultureinrichtungen, die sich im Quartier etabliert hatten, [aber] vor ca. zehn Jahren gab es so eine kleine Entwicklungswelle, von der man dachte, dass sie wesentlich mehr Wirkung entfalten und dass sich die Alte Neustadt in Richtung eines neuen ,Viertels‘1 entwickeln würde – aber das ist dann in dem vielleicht erwarteten Ausmaß nicht passiert.“ (Burdorf, 2024) 

Doch wie kam es erstmals zu dem Aufschwung? – „Zurückzuführen ist vieles von der heutigen Aktivität im Quartier tatsächlich darauf, dass damals viele junge Menschen in die Neustadt gezogen sind, weil die Mieten noch nicht so hoch waren.“ Zudem sei die Hochschule vor Ort, die HFK ebenfalls nicht weit weg und mit der Linie 6 der Straßenbahn sei man auch schnell in der Universität. Die Alte Neustadt „bot sich für viele einfach an“ (Ebd.). Im Zuge dieser Entwicklung begegneten sich viele jüngere Menschen im Quartier. Ein wichtiger Moment war dabei sicherlich die bis 2014 dauernde Besetzung des leerstehenden Einrichtungshauses Deters – damals als „dete“ bekannt. Mit dabei waren damals auch die Gründer des Kulturzentrums Kukoon! (im benachbarten Buntentorviertel) wie auch des PAPPs. 

„Das ist vielleicht nicht der Standard-Weg, wie sich Quartiere entwickeln,“ so Burdorf, „aber viele der heutigen Entwicklungen sind auch darauf zurückzuführen, dass damals ein Ort entstanden ist, an dem sich viele Leute begegnet sind, die gemeinsame Ideale hatten und Ideen entwickelt und ausgetauscht haben.“ So formierten sich in dieser „Keimzelle“ (Burdorf) auch Ideen, wie die Bremer Neustadt weiter gestaltet werden könnte. 

Angelockt von den positiven Entwicklungen kam es zu weiterem Zuzug aber leider auch zu ansteigenden Mieten. Jedoch, so Burdorf, sei eine klassische Gentrifizierung gar nicht unbedingt zu erkennen, da es auf Grund einer stabilen Eigentümerstruktur nicht so sehr zu Verdrängungen gekommen sei. „Einer der Hauptgründe, warum die Entwicklung der Alten Neustadt Richtung eines neuen „Viertels“ nicht weiter geht, liegt darin, dass der Stadtteil im Prinzip schon zu gesättigt ist. Es gibt eine gesättigte Eigentümerstruktur, wenig Mietflächen, viel Eigentumsflächen […] und deswegen hat es dann keine so starke Entwicklung gegeben, wie am Anfang vielleicht erwartet wurde.“ (Ebd.)2 

Ein weiterer Einflussfaktor für eine eher schleppende kultur- und kreativszenengetriebene Quartiersentwicklung sei, laut Jeen Burdorf, das begrenzte Angebot an Plätzen und Freiräumen im öffentlichen Raum: „Es gibt wenig Plätze, um die herum sich Kneipen entwickeln könnten und in den Jahrzehnten davor wurden viele Geschäfte, die leer standen, in Wohnungen umgewidmet.“ Aber, so Burdorf weiter, „wenn eine Fläche nicht mehr Gastronomiefläche ist, dann wird sie auch nur selten wieder eine Gastronomiefläche, weil der Aufwand, umzubauen, relativ groß ist.“ (Ebd.) Der Rückumbau von Wohnungen zu Gastronomieflächen in der Erdgeschosszone bringe hohe Kosten sowie ein ungleich höheres Leerstandsrisiko mit sich, als die Wohnung einfach weiterhin als Wohnung zu vermieten. Zur Förderung der Quartiersentwicklung sollte in vergleichbaren Situationen deswegen die Umwidmung von Gastronomie- zu Wohnflächen im Erdgeschoss in Zukunft möglichst nicht mehr zugelassen werden (Ebd.). 

Nichtsdestotrotz gibt es auch heute noch neue Initiativen und Projekte im Quartier – die allerdings damit konfrontiert sind, dass es zu wenig Platz für sie gibt, sich zu entfalten. Auch liegen die wenigen Kneipen in der Bremer Neustadt so vereinzelt im Stadtgefüge, als das viel Austausch zwischen ihnen entstehen könnte. Da die Bremer Neustadt ursprünglich als Wohnquartier angelegt wurde, ist es wenig überraschend, dass die heutigen Ausgehorte nur an den früher dafür konzipierten Einkaufsstraßen (Langemarckstraße, Buntentorsteinweg, Pappelstraße, Gastfeldstraße, Lahnstraße) verteilt liegen. Die Wohngebiete zwischen diesen Nahversorgungsstraßen sind in ihrer baulichen Struktur wenig flexibel und schwer in Bezug auf andere Nutzungen zu entwickeln (Ebd.). Dies wird verstärkt durch die hohe Eigentumsquote, die dazu führt, dass sich erst nach längeren Zeiträumen Umzüge oder Umbauten ergeben: Viele, ein Quartiersgefühl stiftende Kulturprojekte gehen von jungen Menschen und Studierenden als prinzipielle Träger:innen der Aktivitäten aus, „aber wenn es keine Mietflächen gibt, und die Leute kein Geld haben, zu kaufen, oder sich in Lebensphasen befinden, in denen sie noch nicht kaufen wollen, dann haben genau diese potentiellen Akteure keinen Platz, sich im Quartier anzusiedeln. Denn du wirst ja in der Regel vor allem da aktiv, wo du dich wohlfühlst und wo du viel Zeit verbringst.“ (Ebd.) 

Allerdings könnte sich die Entwicklung der Bremer Neustadt in kultureller Hinsicht auch jederzeit wieder beschleunigen. Dazu würde wohl auch ein neuer Impuls, wie zum Beispiel die Neueröffnung eines Clubs, ausreichen – selbst wenn die Alte Neustadt wahrscheinlich niemals zu einem „zweiten Viertel“ werden wird, was, laut Burdorf, auch durch die Größe der Stadt Bremen und durch die dadurch begrenzten quartiersübergreifenden Bedarfe an Ausgehorten bedingt sei (Ebd.). 

Die Bedeutung von Veranstaltungsorten und kleineren Treffpunkten zum niedrigschwelligen Austausch sei dennoch immens: „Ich glaub daran,“ so Burdorf, „dass es für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft sehr wichtig ist, dass es Kultur für alle gibt.“ Insbesondere sei es deswegen unerlässlich, „dass wir Kultur auch für die Menschen fördern, die nicht so viel Geld haben, denn: Momentan fließt ein Großteil der öffentlichen Gelder und damit Subventionen in klassische Kultur, die zu einem großen Teil eben auch von wohlhabenden Akademiker:innen genutzt wird, wohingegen viele andere kulturelle Aktivitäten dem Markt überlassen werden.“ (Ebd.) Kneipen und Clubs gehören bisher kategorisch nicht zur Kultur, da sie ihr eigenes Geld erwirtschaften. Aber: „Was bedeutet Kultur eigentlich?“ – auch mit dieser Frage müsste sich noch weitergehend befasst werden (Ebd). 

Flächen für Kultur und Kreativität lassen sich kaum steuern – und sind schwer zu schützen. Jeen Burdorf empfiehlt deswegen, in der Planung neuer Quartiere frühzeitig an Orte für Zwischennutzungen zu denken, an denen sich kulturelles und kreatives Potential entfalten kann. Denn: Kulturflächen können nicht ausgeschrieben werden – sie brauchen Zeit und Raum, sich zu entwickeln (Ebd.). 


„Dritte Orte“ als Basis für sozialer Quartier 

Als „Dritte Orte“ (Schröter, 2021) neben dem Wohnort und dem Arbeitsplatz bieten die eingangs aufgezählten Begegnungsorte in der Alten Neustadt – Shakespeare Company, Alte Schnapsfabrik, PAPP und Lichter der Neustadt – die Möglichkeit, Kontakte zu knüpfen und an Aktivitäten teilzunehmen… sowie auch dafür, Veränderungen anzuregen! Von diesen sozial interaktiven Orten können die Bewohner:innen eines Quartiers besonders profitieren, insbesondere weil in und mit ihnen Wandel und Transformation erfahrbar und besonderes Engagement, Identitätsstiftung und die Grundlage für soziale Resilienz ermöglicht werden. Die Gleichzeitigkeiten und Widersprüche einer Stadt können so besser akzeptiert und geschätzt werden – und auch jeder einzelne Stadtbewohner erhält die Chance, in seiner unmittelbaren Umgebung selbst wirksam zu werden und den Alltag in der Stadt mitzugestalten. 


Endnoten

1 „Das Viertel“ bezeichnet in Bremen umgangssprachlich die Ortsteile Ostertor und Steintor mit einer bunten Mischung von Kneipen, Restaurants, Kultureinrichtungen, Läden und kleinem produzierendem Gewerbe, sowie Wohnen. Es gilt in Bremen als Paradigma eines lebendigen Quartiers. 

2 Eine Forschungsarbeit von Studierenden der Universität Bremen bestätigt diese Einschätzung. So weisen gewisse Indikatoren zum einen darauf hin, dass sich die Bremer Neustadt in einer Phase der Gentrifizierung befindet und zunehmend durch diese geprägt wird, zum anderen zeigt sich gleichzeitig, dass die Entwicklung schon seit einigen Jahren stagniert (Ehrhard et.al., 2023: S. 4ff.).


Literatur

Alte Schnapsfabrik, Hendrik Loga (ohne Datum): Die Alte Schnapsfabrik. https://alte-schnapsfabrik.de, Zugriff am 20.3.2024. 

Burdorf, Jeen, Referentin für Kulturflächenkoordination der Stadt Bremen, persönliches Interview am 16.01.2024. 

Ehrhard, Mark; Funke, Tabea; Rentsch, Mona; Röschmann, Alina; Wende, Lena (2023): Welche Potentiale sehen die Expert:innen für zukünftige Entwicklungen der Bremer Neustadt vor dem Hintergrund der stattfindenden Gentrifizierung und der aktuellen Beliebtheit bei jungen Menschen? Unveröffentlichte Studienarbeit, Institut für Geographie, Projektmodul Humangeographie, Universität Bremen. 

KulturKraken e.V., Victor Frei (ohne Datum): Das Winter- Kultur-Festival braucht Eure Unterstützung!, Lichter der Neustadt, https://www.lichterderneustadt.de/support, Zugriff am 20.3.2024. 

Mörtel, Karin (2016): Gestaltungspläne an Wilhelm- Kaisen-Brücke. Kreative erobern Kreuzung, in: Weser- Kurier vom 21.6.2016, https://www.weser-kurier.de/bremen/kreative-erobern-kreuzungdoc7e3vekoretv1c3da0a10, Zugriff am 20.3.2024. 

Neustadt Magazin (ohne Datum): Offene Ateliers in der Neustadt (26.5.2018). https://neustadtbremen.de/ offene_ateliers_in_der_neustadt, Zugriff am 20.3.2024. 

Raveling, Jann (2016): Das Tor zur Neustadt – Kreative beleben einen Bremer Stadtteil. WfB Wirtschaftsförderung Bremen. https://www.wfbbremen. de/de/page/stories/kreativwirtschaft/das-torzur- neustadt-kreative-beleben-einen-bremer-stadttei, Zugriff am 20.3.2024. 

Schröter, Christian (2021): Der Dritte Ort, Third Place, Great Good Place. In: Gütsel Online. 7.12.2021, https:// www.guetsel.de/content/guetersloh/32564/der-dritteort- third-place-great-good-place.html, Zugriff am 20.3.2024. 

WfB Wirtschaftsförderung Bremen (ohne Datum): Kultur und Kreativwirtschaft. Ein Wirtschaftszweig mit innovativen Potentialen. https://www.wfb-bremen.de/de/page/wirtschaftsstandort-bremen/kreativwirtschaftmedien, Zugriff am 20.3.2024. 

 

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